Mit Interview: Vom "Großen Nöstlinger Lesebuch" bis zur Glossensammlung.
Schwer zu glauben, dass jemand in den vergangenen vier Jahrzehnten nicht mit Geschichten von Christine Nöstlinger in Berührung gekommen sein könnte. Ihr 75. Geburtstag am 13. Oktober bietet jedenfalls mit einigen Sammelbänden Gelegenheit, sich einzulesen in den Figuren-Kosmos der bekannten Wiener Kinderbuchautorin oder schöne Wiederbegegnungen zu machen.
"Das große Nöstlinger Lesebuch" (Beltz & Gelberg) etwa versammelt 35 Geschichten um 14,95 Euro. Neben Beispielen aus "Anna und die Wut", dem "Bohnen-Jim", "Der Hund geht in die Schule" oder "Leon Pirat" gibt es auch viele kurze Texte und anhand von Bildern von insgesamt 18 Illustratorinnen und Illustratoren (darunter u.a. Jutta Bauer, Axel Scheffler und Philip Waechter) eine schöne Übersicht über die Vielfalt der Bebilderungsmöglichkeiten ihrer Geschichten.
Franz-Geschichten
Für Franz-Freunde gibt es unter dem Titel "Der ganze Franz" alle Franz-Geschichten in einem Band, auch die "Geschichten von Mini" gibt es in einem neuen Sammelband. "Eine Frau sein ist kein Sport" heißt dagegen ein Band mit alten Kolumnen und Glossen, die Christine Nöstlinger für erwachsenes Publikum geschrieben hat. Der Residenz Verlag hat sie in einem "Hausbuch für alle Lebenslagen" zusammengefasst. Die bisher letzte Nöstlinger-Neuerscheinung war im Sommer der Gedichtband "Achtung, Kinder!" mit Illustrationen von Heide Stöllinger.
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Frau Nöstlinger, wieviel Kontakt hat eine 75-jährige Kinderbuch-Autorin zu Kindern?
Christine Nöstlinger: Ich komme nicht täglich mit Kindern in Kontakt. Ich mag Kinder - aber auch nicht mehr als ich Menschen anderer Altersgruppen mag. Ich bin nicht speziell kinderlieb. Es gibt auch Kinderbuchautoren, die Kinder überhaupt nicht leiden können und trotzdem sehr schöne Kinderbücher schreiben.
Die Lebenswelt von Kindern hat sich in den vergangenen Jahren dramatisch geändert. Wie wichtig ist es, sich da auf dem Laufenden zu halten?
Nöstlinger: Man muss nicht immer bei Kindern recherchieren. Ich glaube, man muss viel eher die Türe zur eigenen Kindheit nicht zugemacht haben. Ich mag mich auch nicht bei Kindern anbiedern. Ich schreibe hin, was ich gern hinschreib'. Solange es ihnen gefällt, soll es mir recht sein. Wenn es ihnen nicht mehr gefällt, wird man das an den Verkaufszahlen merken. Dann muss ich halt damit aufhören.
Heute gibt es immer mehr Kinder, die freiwillig kein einziges Buch lesen würden. Ist es eine Notwendigkeit, Kinder zum Lesen zu erziehen, oder sind heute ohnehin andere Fertigkeiten gefragt?
Nöstlinger: Kinder, die überhaupt nicht lesen wollen, hat es immer schon gegeben. Man darf nicht vergessen: Es gibt überhaupt nur zwei oder drei Generationen von Kindern, die mehr gelesen haben. Mein Vater hat mir erzählt, dass Lesen in seiner Kindheit nicht als Tugend galt. Es hieß, man verdirbt sich dabei die Augen, man dreht deswegen kein Licht auf und man bekam die Frage: 'Hast nichts Besseres zu tun?' Als ich zum Schreiben begonnen habe, in den 70er Jahren, gab es dagegen den Trend: Man muss sich viel mehr um die Kinder kümmern, auch um ihre Lektüre. Aber auch unter den Erwachsenen gibt es nur acht Prozent echte Leser, und da haben wir schon die ganzen Leute dabei, die nur einen Schmarrn lesen.
Immer weniger Eltern lesen ihren Kindern vor - weil es bequemer ist, sie vor den Fernseher zu setzen.
Nöstlinger: Vorlesen ist angeblich sehr wichtig, höre ich immer. Ich selbst lese nicht gerne vor, auch nicht in Schulen. Für mich war Lesen immer eine private, stille Beschäftigung. Ich habe auch meinen Kindern nie vorgelesen, und sie haben es eigentlich auch nie verlangt. Sie konnten sehr früh lesen. Ich habe ihnen Geschichten erzählt und erfunden.
Trotzdem waren Ihre Kinder nicht gleichzeitig Ihre erste Zielgruppe beim Schreiben?
Nöstlinger: Nein, überhaupt nicht. Meine Kinder waren merkwürdige Eggheads-Kinder. Die haben mit neun Jahren gerne Jandl gelesen oder Lieder von Degenhardt gehört.
Haben Ihre Kinder Ihnen damals gesagt, was sie von Ihren Bücher halten?
Nöstlinger: Nein, das kann man von Kindern nicht verlangen. Ich war eine halbwegs nette Mama, und sie haben gesehen, dass ich mich redlich bemühe. Einmal war meine Tochter allerdings sehr böse auf mich, weil ich in einem Buch etwas von ihr übernommen habe: Sie hat abstehende Ohren gehabt, die hat sie mit Locken überdeckt. Einem Mädchen, das sonst nichts mit ihr zu tun hatte, habe ich diese Ohren angedichtet. Alle in ihrer Klasse haben dann geglaubt, das ist meine Tochter und sie hätte auch alle anderen Eigenschaften, z.B. haben sie dann gefragt: Was, du hast schon einen Freund? Ich habe dann tunlichst vermieden, noch einmal etwas von meinen Töchtern in irgendeinem Buch zu verwenden.
Diejenigen, die sich am ehesten erkennen könnten in Ihren Büchern, sind also Freunde und Spielkameraden aus Ihrer eigenen Kindheit?
Nöstlinger: Na ja, das sind so Geschichtsklitterungen. Ich muss ein heutiges Kind schon anders schildern. Ich galt etwa in meiner Jugend als frech, als nicht höflich, als aufbegehrend sowohl daheim wie in der Schule. Aber bei dem, was ich mir angeblich geleistet habe, täten sich heutige Lehrer alle zehn Finger abschlecken, wenn sie nicht mehr erleben müssten als dieses. Aber es sind die gleichen Gefühle, die haben sich ja nicht verändert. Wenn eine 10-Jährige Wut hat, dann ist diese Wut heute nicht anders als vor 65 Jahren. Und dass in der Kindheit Glück und Unglück ganz dicht aneinander sitzen, ist heute auch noch genauso wie vor 65 Jahren.