Der Kanzler über Reform-Bremser, Neuwahlen, Brexit und sein Fitness-Programm.
Das verlängerte Wochenende für Kanzler Christian Kern begann mit dem Wiener SPÖ-Parteitag, dann ging’s zum EU-Sondergipfel nach Brüssel zum wenig unterhaltsamen Thema Brexit, morgen dann die große rote Kundgebung zum 1. Mai.
Vor genau einem Jahr hatte alles angefangen. Kerns Vorgänger Werner Faymann war von der SPÖ-Basis ausgepfiffen worden – ein in der Parteigeschichte einmaliges Ereignis. Bald darauf folgte Faymanns Rücktritt, und Kern war plötzlich Kanzler und Parteichef.
Buhrufe wird es für Kern kaum geben. Er hat den Abwärtstrend der SPÖ stoppen können. Seine Bilanz des ersten Kanzler-Jahres fällt im ÖSTERREICH-Interview aber nicht ausschließlich positiv aus. Zu langsam gehe es ihm mit den Reformen voran. Er attackiert "Bremser" und "Verhinderer", vor allem in der ÖVP – und jene, die einen "Regierungsstillstand inszenieren" und es offensichtlich auf einen Koalitionsbruch anlegen. Denen gegenüber stellt er unmissverständlich fest: "Ich bestehe auf der Wahl im Herbst 2018."
ÖSTERREICH: Sie sind jetzt fast ein Jahr Bundeskanzler. Wo haben sich Ihre Erwartungen erfüllt, wo sind Sie enttäuscht worden?
Christian Kern: Ich habe gerade erst die jüngsten Konjunkturdaten bekommen: Unsere Wirtschaft springt wieder an, das ist sehr positiv, und wir sehen, dass die Arbeitslosigkeit deutlich zurückgeht. Das steht auf der Habenseite. Womit ich sicher nicht zufrieden sein kann, ist das Tempo, mit dem wir bei den Reformen vorankommen, die dieses Land braucht. Es gibt einfach zu viele, die kein Interesse an Reformen haben, die bewusst bremsen und ein schnelles Fortkommen verhindern, weil sie nur ihre eigenen Interessen verteidigen. Das betrifft das Mietrecht, aber auch die Schulreform, wo wir zwar mit der Ganztagsschule einen großen Schritt vorwärts gemacht haben, bei anderen Projekten aber durch die Widerstände der von der ÖVP geprägten Lehrergewerkschaft oder einzelner Bundesländer mit einem Tempo vorankommen, das sicher nicht dem entspricht, was ich mir für unser Land vorstelle.
ÖSTERREICH: Enttäuscht von diesen Bremsern?
Kern: Ich nenne es nicht Enttäuschung, aber es gibt schon viele, die Beton anrühren, um ihre Interessenlagen zu verteidigen. Wenn Sie sich zum Beispiel anschauen, dass 1,1 Millionen Menschen bei uns keinen Vollzeitjob haben und in Arbeitsverhältnisse ohne Anstellungen gezwungen werden, ist es doch offensichtlich, dass hier etwas passieren muss ...
ÖSTERREICH: Das ist auch ein wichtiger Punkt in Ihrem Plan A. Sind Sie da im Plan oder geht mit der ÖVP zu wenig weiter?
Kern: Der Plan A ist ein Konzept, das ich aus meiner Sicht vorgestellt habe. Dass da einiges nicht umsetzbar ist, weil es mit dem aktuellen Regierungspartner nicht geht, war von vornherein klar. Einer dieser Punkte ist zum Beispiel, dass eine Mittelstandsfamilie nicht das ganze Erbe verlieren soll, wenn es einen Pflegefall in der Verwandtschaft gibt. Das ist eine hundertprozentige Erbschaftssteuer für jene, die ohnehin kein Glück hatten. Stattdessen habe ich eine Erbschaftssteuer für Millionäre vorgeschlagen. Solche Dinge sind mit der ÖVP offensichtlich nicht zu schaffen.
ÖSTERREICH: Mit welchem Regierungspartner wäre das zu bewältigen?
Kern: Eine gestärkte SPÖ ist die Grundvoraussetzung. Wenn wir stärker werden, können wir auch besser über den nächsten Regierungspartner entscheiden.
ÖSTERREICH: Mit der FPÖ wären soziale Anliegen besser durchzubringen?
Kern: Die haben wiederum ein Problem mit der Gegenfinanzierung. Die FPÖ verspricht soziale Wohltaten, ohne sich dazu zu äußern, wie das bezahlt werden soll. Wenn wir in der sozialen Frage Fortschritte erzielen wollen, müssen wir gerecht verteilen und die Mittelschicht entlasten. Da sehe ich auch in der FPÖ keinen Partner, die sich immer auf die Seite der Großgrundbesitzer und der Hausherren schlägt.
ÖSTERREICH: Noch ein Detail zu Plan A: Wann kommt das Gratis-Tablet?
Kern: Das geht in die Umsetzung, das wird gerade vorbereitet. Erster Schritt Breitbandausbau, dann kommen Laptops und Tablets. Der Erfolg hängt natürlich auch von der Lehrerausbildung ab, die wir parallel angehen.
ÖSTERREICH: Im ÖVP-Parteivorstand wurde am vergangenen Sonntag ernsthaft über Neuwahl im Herbst diskutiert. Wären Sie dafür zu haben? Und haben Sie sich darüber schon mit Vizekanzler Mitterlehner ausgetauscht?
Kern: Ich habe dem Vizekanzler klar gesagt, dass wir auf der Wahl im Herbst 2018 bestehen. Ich sehe nicht, wo wir in Österreich ein einziges Problem lösen, wenn wir in Neuwahlen gehen. Es wird dadurch kein einziger Arbeitsplatz geschaffen, es gibt keine Verkäuferin, die dadurch einen Euro mehr verdient. Das sind nur Machtspielchen, für die wir nicht zu haben sind. Ich muss auch ehrlich sagen: Das wird auch von manchen in der ÖVP bewusst inszeniert, um den Eindruck des Stillstands zu erwecken. Wenn Termine für die Regierungsarbeit abgesagt werden und man dann am nächsten Tag in der Zeitung liest "In der Regierung geht nichts weiter", dann ist das ein bewusstes Spiel. Wir werden aber mit Sicherheit nicht die Geduld verlieren.
ÖSTERREICH: Sie waren für eine Wahlrechtsreform, die den Wahlsieger bevorzugt. Hat die eine Chance auf Umsetzung?
Kern: Ich war für ein mehrheitsförderndes Wahlrecht, das dem Ersten einen Bonus gibt. Der Stärkere soll ohne taktische Spielchen die Regierung bestimmen. Ich habe nur festgestellt, dass die FPÖ da plötzlich sehr mutlos geworden ist. Sie sind offenbar nicht mehr sicher, bei der nächsten Wahl wirklich so gut abzuschneiden.
ÖSTERREICH: Morgen ist 1. Mai. Im Vorjahr wurde Ihr Vorgänger ausgebuht. Kann Ihnen das auch blühen?
Kern: Bei den SPÖ-Veranstaltungen haben wir durch die Bank eine große Euphorie. Dass es ein paar kritische Jugendorganisationen gibt, das ist halt so. Die werden wir deshalb nicht gleich ausschließen wie bei den Grünen.
ÖSTERREICH: Was ist Ihre Lieblingspizza?
Kern: Eindeutig Margherita.
ÖSTERREICH: Mit der Distanz einer Woche betrachtet: War der Pizzabote eine gute Idee?
Kern: Ich finde schon, und würde es jederzeit wieder machen. Ich glaube auch, dass es nicht schadet, mit ein bisschen Selbstironie an die Sache heranzugehen. Mit dieser Aktion haben wir deutlich gemacht, dass wir die einzige Partei sind, die für die Mittelschicht kämpft. Wir haben eine Million, die das Video angesehen und 400.000, die die Kampagne dahinter angeklickt haben.
ÖSTERREICH: Was können Sie dazu beitragen, dass die Wiener Partei, Ihre wichtigste Landesorganisation, wieder in die Gänge kommt?
Kern: Entscheidend ist es, zu wissen, dass wir auch in Wien vor gewaltigen Herausforderungen stehen und dass sich alles in rasantem Tempo ändert. Wenn wir die Erfolgsgeschichte des roten Wiens fortsetzen wollen, müssen wir aufhören, uns nur mehr mit uns selbst zu beschäftigen.
ÖSTERREICH: Doris Bures hat sich für Michael Ludwig als Häupl-Nachfolger ausgesprochen. In Ihrem Sinne?
Kern: In diese Debatte mische ich mich nicht ein, es gibt in der SPÖ viele ausgezeichnete Persönlichkeiten. Den Michael Ludwig kenne und schätze ich seit Langem – wie viele andere auch. Der Bürgermeister wird hier die richtigen Weichen stellen. Bei Weichen kenn ich mich aus.
ÖSTERREICH: Wie ist das Problem der türkischen Doppelstaatsbürgerschaften in den Griff zu bekommen?
Kern: Staatsbürgerschaften soll man nicht wie Briefmarken sammeln dürfen. Wenn wir uns selbst ernst nehmen, müssen wir unsere Gesetze auch durchsetzen. Das erwarte ich mir von den politischen Verantwortlichen, da sind die Minister gefordert.
ÖSTERREICH: ... Innen- und Außenminister?
Kern: Es reicht nicht, zu sagen, das ist schwierig. Sondern man muss mit der Türkei reden, die bilateralen Beziehungen nützen, um Ergebnisse zu erzielen. Die Bezirkshauptmannschaften können das allein nicht leisten. Da erwarte ich mehr Einsatz von den Ministern und nicht nur Rhetorik und schöne Worte.
ÖSTERREICH: Nächsten Sonntag wissen wir mehr, aber es sieht so aus, als wäre der Siegeszug der Rechtspopulisten fürs Erste gebremst ...
Kern: Ich habe auch den Eindruck, dass nach Brexit und Trump Ernüchterung einkehrt. Was mich allerdings nachdenklich stimmt, ist, dass sich das politische Spektrum schön langsam verschiebt. Dass es eine so starke Zunahme rechtsradikaler Straftaten gibt, muss uns Sorge bereiten.
ÖSTERREICH: Kommentatoren vergleichen Sie gerne mit Macron. Eine Ehre?
Kern: Es gibt sicher Parallelen, aber auch Unterschiede. Was uns eint, ist ein stark lösungsorientiertes Politikkonzept.
ÖSTERREICH: Sie waren gestern beim EU-Gipfel. Kommt es zum totalen Brexit?
Kern: Dass Teresa May mit Vollgas in den Brexit gehen will, stimmt schon nachdenklich. Ich glaube, dass die Briten ihre Position massiv überschätzen. Wenn sie glauben, am Ende mehr Freiheiten oder Souveränität zu haben, wird sich das als Fehleinschätzung herausstellen. In Wahrheit werden sie massiv an Einfluss verlieren. Europa muss jedenfalls klarstellen: Wenn du Mitglied im Klub bist, genießt du die Vorteile. Wenn nicht, hast du sie nicht. Das muss den Briten klar sein.
ÖSTERREICH: Ihr langes Wochenende sieht so aus. Freitag Österreich-Tour, Samstag erst Wien, dann Brüssel, morgen heraus zum 1. Mai. Wie lange hält man das aus?
Kern: Man hält einen 14-Stunden-Tag gut aus, wenn man fit ist. Ich steh früh auf, jogge regelmäßig. Natürlich ist die Freizeit extrem zurückgegangen – praktisch gegen null. Aber ich habe heuer so viele interessante Menschen kennengelernt, das gleicht das aus.