WKO-Präsident warnt: Türkei-Beitritt könnte beide Seiten überfordern.
Für den Präsidenten der Wirtschaftskammer Österreich Christoph Leitl spielt die Frage einer EU-Mitgliedschaft der Türkei keine große Rolle. Es ginge auch ohne, wenn man einen umfassenden europäischen Wirtschaftsraum schaffe. Das erklärte er bei einem Besuch des von ihm geleiteten Wirtschaftsforums der Raiffeisenlandesbank (RLB) Oberösterreich am Wochenende in Istanbul.
Beitritt könnte beide Seiten überfordern
Leitl warnte davor, dass ein EU-Beitritt der Türkei beide Seiten überfordern könnte. Der Fall des Eisernen Vorhanges 1989 und die anschließende Erweiterung habe die EU schon an ihre Grenzen gebracht. Sie sei derzeit noch mit sich selbst beschäftigt. Die Türkei, die ihrerseits in einem Transformationsprozess stecke, habe ein großes Gewicht. Die EU müsste im Fall eines Beitritts imstande sein, dieses zu tragen. "Die Türkei ist nicht reif für die EU und auch die EU ist nicht reif für die Türkei", fasste der Wirtschaftskammerpräsident zusammen.
Leitl schlug statt eines EU-Beitritts eine umfassende europäische Wirtschaftsunion vor. In dieser könnte neben der Türkei auch Russland und die Ukraine, der Mittelmeerraum, die Levante und überhaupt alles sein, was Europa-affin sei. Das wäre ein strategischer Raum mit rund einer Milliarde Menschen, der auf Augenhöhe mit China, Indien und auch den USA stünde. Man sollte damit den Weg über die Wirtschaft gehen, die Politik könne es nicht.
Scharinger tritt gegen Klischees auf
RLB-Generaldirektor Ludwig Scharinger verlangte, in Österreich müsste mit Klischees im Zusammenhang mit der Türkei aufgeräumt werden. In einer Diskussion mit Studenten der Marmara Universität sagte er: "Lassen Sie sich nicht durch populistische Aussagen von Minderheitspolitikern verunsichern. Das ist nicht Österreich". Der in der Türkei lebende Vorsitzende der Denkfabrik "Europäische Stabilitätsinitiative" (ESI) Gerald Knaus berichtete, der Anteil der Analphabeten in der Türkei sei innerhalb von zehn Jahren von 19 auf zehn Prozent gesunken. Die Bereitschaft, arrangierte Ehen zu akzeptieren sei innerhalb von acht Jahren von 69 auf zehn Prozent zurückgegangen. Der Weg der Demokratisierung sei unumkehrbar, die Macht des Militärs sei noch nie so gering gewesen wie jetzt, die Rückkehr zu einem islamischen Gottesstaat unwahrscheinlich.
Wirtschafts-Delegation weist auf große Chancen hin
Leitl, Scharinger, dessen Geldinstitut fast 800 Unternehmen bei ihren Aktivitäten in der Türkei begleitet, der oberösterreichische Wirtschaftslandesrat Viktor Sigl (V), Wirtschaftskammerpräsident Rudolf Trauner und der österreichische Handelsdelegierte in Istanbul Marco Garcia machten auf die großen Geschäftschancen in der Türkei mit einem Markt von rund 73 Mio. Einwohnern, einem für heuer vorausgesagten Wirtschaftswachstum von 4,6 Prozent sowie als Sprungbrett in den Nahen Osten aufmerksam. Gefragt seien neben Konsumgütern unter anderem Waren und Dienstleistungen im Bereich der Energie, der Umwelt-, Medizintechnik sowie Telekommunikation. Österreich war im vergangenen Jahr mit insgesamt 1,2 Mrd Euro größter ausländischer Investor - nicht zuletzt durch die Übernahme des größten türkischen Tankstellenbetreibers Petrol Ofisi durch die OMV.
Die Rektoren der Linzer Johannes Kepler Universität und der Marmara Universität in Istanbul Richard Hagelauer und Zafer Gül unterzeichneten eine neue Kooperation, die es Studenten ermöglichen soll, während eines Auslandssemesters oder -jahres in einem Unternehmen Erfahrung zu sammeln. Der Fahrzeuglogistiker Johannes Hödlmayr, der in der Türkei Fuß fassen will und geeignetes Personal sucht, bot gleich Praktikumsplätze für türkische Studenten in seiner Firma in Oberösterreich an.