Eine Aufklärung des Mordes an der kremlkritischen Journalistin Anna Politkowskaja ist auch knapp drei Jahre nach der Tat nicht in Sicht. Zwar stehen auf Geheiß des Obersten Gerichts Russlands von diesem Mittwoch an in Moskau noch einmal die vier Angeklagten vor Gericht, die im Februar vom Verdacht der Beihilfe zum Mord freigesprochen wurden. Neue Beweise gegen sie gibt es aber nicht.
Nach Einschätzung von Beobachtern dient das neue Verfahren nur dem politischen Ziel, angesichts des internationalen Drucks auf Moskau "Sündenböcke" zu bestrafen. Die wahren Täter dieses politischen Mordes vom Oktober 2006 sind weiter auf freiem Fuß.
"Die Staatsmacht will aus Prinzip jemanden hinter Gitter bringen, egal wen", kommentierte der Vize-Chefredakteur der Zeitung "Nowaja Gaseta", Sergej Sokolow, im Juni die Ansetzung des neuen Prozesses. Der einstige Kollege Politkowskajas sowie Freunde und Angehörige der Journalistin beklagen, dass die "lückenhafte und schlampige Ermittlungsarbeit" der Behörden im Grunde keine Beweise für die Schuld der Angeklagten erbracht habe. Gleichwohl sind auch sie überzeugt, dass die Männer etwas mit dem Mord zu tun haben.
International zur Fahndung ausgeschrieben ist der Tschetschene Rustam Machmudow, der Politkowskaja am 7. Oktober 2006 mit fünf Schüssen vor ihrer Wohnung in Moskau getötet haben soll. Auf der Anklagebank sitzen zwei seiner Brüder sowie ein Polizist und ein früherer Geheimdienstler, der sich in einem Parallelverfahren wegen Amtsmissbrauchs und Erpressung verantworten muss.
Nun sollen eine neue Geschworenen-Jury und ein anderer Richter noch einmal über die Schuldfrage entscheiden, weil die Verteidigung die Schöffen nach Meinung des Obersten Gerichts beim ersten Verfahren unerlaubt beeinflusst habe. Verteidiger Murad Mussajew sieht die Schuld seiner Mandanten weiter als nicht erwiesen an. Er kritisierte zuletzt, dass die DNA-Spuren auf der Tatwaffe keine Verbindung mit Machmudow oder seinen Verwandten zuließen.
Unerwartete Freisprüche
Die gesamte Anklageschrift fußt im Wesentlichen auf der Auswertung telefonischer Verbindungsdaten, die Aufschlüsse über den Aufenthalt der Verdächtigen am Tattag zulassen - mehr aber nicht. Auch deshalb fiel die Entscheidung der Jury im Februar einstimmig. Die Freisprüche kamen unerwartet, weil Anklagen in Russland bisher fast immer mit Verurteilungen endeten. Dennoch ging die Generalstaatsanwaltschaft, die schon 2007 die Aufklärung des Mordes verkündet hatte, gegen die Entscheidung vor.
Bisher galt das Prinzip "Im Zweifel für den Angeklagten" wenig in Russland. Deshalb sahen Beobachter den Richterspruch vom Februar auch als eine neue Entwicklung für die von Kremlchef Dmitri Medwedew angemahnte Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit der russischen Justiz. Trotzdem hat die russische Führung immer wieder eine Aufklärung des Mordes versprochen.
Nach den jüngsten Morden an der tschetschenischen Menschenrechtlerin Natalia Estemirowa und dem Anwalt Stanislaw Markelow hat sich der Druck auf die Behörden erhöht. Weil Politkowskaja, Estemirowa und Markelow und andere immer wieder den "Staatsterror" in der russischen Teilrepublik Tschetschenien anprangerten, stehen die Sicherheitsbehörden bis heute im Verdacht, in die politischen Morde verwickelt zu sein.
Von Ulf Mauder