"Human Library"

Diese Bibliothek leiht Menschen statt Bücher aus

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Das Konzept der „Human Library“ ermöglicht es, Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen ins Gespräch zu bringen. Statt Bücher auszuleihen, trifft man hier auf Personen, die bereit sind, ihre persönlichen Geschichten zu teilen. 

Was der australische Ex-Soldat mit Gesichtstätowierungen und die dänische Großmutter erzählen, zeigt, wie vielschichtig und tief solche Begegnungen sein können.

Das steckt hinter der „Human Library“

„Man soll ein Buch nicht nach seinem Einband beurteilen“, lautet ein bekanntes Sprichwort. Doch bei Joel Hartgrove fällt dies schwer. Sein Gesicht und Körper sind mit Maori-Tätowierungen bedeckt, besonders markant auf Ohren, Hals und Kopf. Es sieht aus, als hätte jemand mit einem Filzstift willkürlich Symbole und Buchstaben auf seine Haut gemalt, und nur noch wenig Platz bleibt frei.

Ronni Abergel, CEO und Leiter des Projekts. 

Ronni Abergel, CEO und Leiter des Projekts. 

© The Human Library Organization

Joel, ein ehemaliger Soldat aus Australien, erzählt, dass viele Menschen ihm aus dem Weg gehen und sogar ihre Kinder von ihm fernhalten. Einst war er ein stolzer, untätowierter Soldat, bis er durch eine Verletzung chronische Schmerzen und Depressionen entwickelte. Die Tattoos, so erklärt er, ließ er sich anfangs stechen, um die Menschen auf Abstand zu halten. Heute bereut er diese Entscheidung teilweise, da sie sein Leben stark beeinflussen. Joel ist nun dabei, sich zum Sanitäter umzuschulen, und plant, die Tattoos mit einem Laser entfernen zu lassen. „Meine Patienten sollen keine Angst vor mir haben“, sagt er in einem Video der Human Library.

Menschen als "offene Bücher"

Joel ist Teil der „Human Library“, einer besonderen Bibliothek, in der man Menschen statt Bücher ausleiht. Diese „offenen Bücher“ sprechen über ihre Lebensgeschichten und Erfahrungen. Besucher können Joel zum Beispiel für 20 Minuten „ausleihen“ – sei es online oder persönlich –, um mehr über seine Militärzeit, seine Tattoos und die dahinter liegenden Erfahrungen zu erfahren. Hinter dem harten Äußeren verbirgt sich ein nachdenklicher und humorvoller Mensch, der bereit ist, jede Frage zu beantworten.

 

Die Human Library wurde gegründet, um das Verständnis für stigmatisierte Menschen zu fördern. „Viele unserer Teilnehmer werden aufgrund ihres Aussehens, ihres Berufs oder ihrer Lebensgeschichte diskriminiert“, erklärt der Gründer Ronni Abergel. Die Plattform gibt diesen Menschen die Möglichkeit, ihre Geschichten zu erzählen und Vorurteile abzubauen.

Die Entstehung der Idee

Die Idee zur Human Library stammt von Ronni Abergel, einem dänischen Journalisten und Aktivisten. Im Jahr 2000 gründete er das Projekt beim Roskilde-Festival in Dänemark. Ziel war es, Vorurteile gegenüber oft missverstandenen oder unbeliebten Menschen abzubauen. Abergel wollte eine Plattform schaffen, auf der diese Menschen ihre Geschichten in einem offenen und sicheren Rahmen teilen können. Die Idee, Menschen wie Bücher „auszuleihen“, war ein spontaner Einfall eines Freundes – und erwies sich als perfekt.

Weltweiter Erfolg

Heute gibt es die Human Library in über 80 Ländern, von München bis Tokio, und sie bietet eine beeindruckende Vielfalt an „Büchern“. Besucher können aus Themen wie Rugby, Depression oder dem Leben als Stripperin wählen. „In jedem von uns steckt ein Buch“, sagt Abergel, „und viele sind wahre Bestseller.“

Bewegende Begegnungen

Die erste Lesung in der Human Library war ein Gespräch zwischen einem Polizisten und drei antifaschistischen Demonstranten. Diese hatten bei früheren Protesten schlechte Erfahrungen mit der Polizei gemacht und wollten wissen, warum jemand Polizist wird. Am Ende des zweistündigen Gesprächs schützten sie den Polizisten sogar vor einem betrunkenen Freund, der Streit suchte. „Nach einer Stunde hatten sie den Mann besser kennengelernt als alle anderen“, erzählt Abergel stolz. Solche Begegnungen zeigen, wie wichtig offene Gespräche sind. Die „Bücher“ der Human Library teilen Geschichten, die oft schwer und emotional sind. So zählt Abergel auch selbst zu diesen „Büchern“, nachdem seine Frau unerwartet an Herzversagen starb und er mit zwei kleinen Kindern zurückblieb. „Es war eine unglaublich schwierige Zeit“, sagt er, „und viele wussten nicht, wie sie mit mir umgehen sollten.“

Ein globales Netzwerk

Die Human Library zieht Menschen aus persönlichen Gründen an. Beispielsweise gibt es viele Eltern, deren Kinder sich als homosexuell geoutet haben und die einem homosexuellen „Buch“ Fragen stellen, die sie ihrem eigenen Kind nicht zu stellen wagen. Gleichzeitig stellt Abergel klar: Wer Gewalt befürwortet oder missionieren will, ist in seiner Bibliothek fehl am Platz. Mit der Pandemie wurde das Projekt stark ins Internet verlagert. Überraschenderweise führte das zu einem deutlichen Anstieg der Begegnungen. Plötzlich konnten sich ein Klempner aus Kenia und ein Künstler aus Bangladesch austauschen, obwohl sie tausende Kilometer entfernt leben.

Kein Raum für Vorurteile

Die Veranstaltungen der Human Library sind kostenlos. Organisatoren wie Schulen oder Begegnungsstätten übernehmen meist die Kosten für die Anreise und Verpflegung der Teilnehmer. Die Human Library selbst finanziert sich inzwischen auch durch Veranstaltungen mit großen Unternehmen wie Microsoft oder Amazon. Für Ronni Abergel geht es dabei immer um das gleiche Ziel: Vorurteile abbauen. „Unser Motto ist: ‚Unjudge someone‘.“ Firmen wie Microsoft nutzen das Format, um ihre Arbeitsumgebung für Menschen aus allen Lebensbereichen zu öffnen.

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