Ein kleines Fragment einer 1.750 Jahre alten Übersetzung des Neuen Testaments konnte jüngst in der Bibliothek des Vatikans entdeckt werden.
Der bedeutende Fund gelang dem Mittelalterforscher Grigory Kessel von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), der die Worte des Handschriftenfragments einer syrischen Übersetzung aus dem Griechischen mittels Ultraviolett-Fotografie entziffern konnte. Sie verbargen sich hinter einem zweifach neu beschriften Manuskript.
Es handle sich dabei um einen der ältesten Textzeugen der Evangelien, wie es am Donnerstag in einer ÖAW-Aussendung zu der Publikation im Fachblatt "New Testament Studies" heißt. Die Übersetzung erfolgte im 2. oder 3. Jahrhundert und wurde im 6. Jahrhundert handschriftlich festgehalten. Vor etwa 1.300 Jahren hat ein Schreiber in Palästina das ursprüngliche Evangelienbuch, das mit dem syrischen Text beschriftet war, ausradiert. Pergament war im Mittelalter in der Wüste Mangelware, Manuskripte wurden häufig wiederverwendet. Mittels der Ultraviolettfotografie konnte Kessel die Worte auf den einzelnen erhalten gebliebenen Blättern des geschichteten Manuskript, dem sogenannten Palimpsest, wieder lesbar machen.
"Um diese Art von Funden zu machen, braucht es ein ungeheures Repertoire an Wissen, um ersten Hinweisen nachgehen zu können", sagte Claudia Rapp, Direktorin des Instituts für Mittelalterforschung der ÖAW, gegenüber der APA: "In diesem Fall handelt es sich sogar um eine zweifach ausradierte Schrift, das genutzte Pergament wurde zwei Mal neu beschrieben." Die erste Textschicht war syrischen, die mittlere griechischen und die oberste georgischen Ursprungs.
Heute nutzen Forscher die Multispektralfotografie, darunter die Ultraviolettfotografie, sowie automatisierte computergestützte Erkennungssoftware, um vor Jahrhunderten mittels Bimssteins oder Flüssigkeiten ausradierte Handschriften wieder sichtbar zu machen. Auch hier brauche es dann ein sehr geschultes Auge, so Rapp, "um durch den Buchstabensalat durchzublicken und die unterste Schrift zu erkennen".
Die Verfahren wurden etwa auch im "Sinai Palimpsest Project", unter Leitung von Rapp und unter Beteiligung von Kessel, angewendet, um in den mittelalterlichen Handschriften des Katharinenklosters am Sinai nach ausradierten Schriften und Sprachen zu suchen. Seit etwa 20 Jahren kommen die Verfahren in der Handschriftenforschung zur Anwendung.
Der aktuelle Fund ist auch von daher so bedeutend, da er als der bis dato einzige Beleg für die vierte Handschrift der Übersetzung gilt: "Die Tradition des syrischen Christentums kennt mehrere Übersetzungen des Alten und Neuen Testaments", sagt Kessel. "Bis vor kurzem waren nur zwei Handschriften bekannt, die die altsyrische Übersetzung der Evangelien enthalten." Während eine davon heute in der British Library in London aufbewahrt wird, wurde eine weitere als Palimpsest im Katharinenkloster auf dem Berg Sinai entdeckt. Im Zuge des "Sinai Palimpsests Project" wurden die Fragmente aus einer dritten Handschrift identifiziert. Das jetzt gefundene Handschriftenfragment gilt als vierte Handschrift, das die altsyrische Fassung bezeugt. Je mehr Übersetzungen bekannt sind, desto mehr erfährt die Wissenschaft über den Originaltext der Evangelien.
Die syrische Übersetzung wurde mindestens ein Jahrhundert vor den ältesten erhaltenen griechischen Handschriften, darunter dem bedeutenden Codex Sinaiticus, verfasst. Für den aktuellen Fund war, neben dem wissenschaftlichen Kennerblick und einer internationalen Zusammenarbeit von Forscherinnen und Forschern, entscheidend, dass die Bibliothek des Vatikans den Codex Sinaiticus in digitalisierter Form online zur Verfügung gestellt hat. So wurde Mittelalterforscher Kessel auf die entscheidenden Blätter aufmerksam.