Es waren kleine, glitschige Tiere, die den Menschen in der kargen Alb-Landschaft rund um Hayingen (Kreis Reutlingen) einst zu etwas Wohlstand verhalfen: Weinbergschnecken entwickelten sich auf den kalkhaltigen Böden so gut, dass das abgeschiedene Große Lautertal zu einem Zentrum des Europäischen Schneckenhandels wurde.
Die Blütezeit, als Schnecken besonders in der Fastenzeit eine weit verbreitete Speise waren, ist zwar seit rund 100 Jahren vorbei - aber nach und nach entdecken Gastronomen und Feinschmecker die Tierchen von der Alb wieder für sich. Wissenschafter der Fachhochschule Nürtingen um Professor Roman Lenz haben historische Aufzeichnungen neu ausgewertet und das alte Wissen über die Weinbergschnecken (Helix pomatia) wieder nutzbar gemacht. "Die Blütezeit war im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts", sagt Lenz. Allein aus den Hayinger Ortsteilen Anhausen und Indelhausen sollen pro Jahr eine Million Schnecken über die Donau verschifft worden sein. Von Ulm aus ging es bis nach Wien und Budapest, später mit der Eisenbahn auch nach Paris.
Wieso sich gerade das Große Lautertal als Handelszentrum etablierte, erklärt Lenz mit den Besonderheiten der Landschaft: Der Kalk, die würzigen Kräuter und die klimatischen Verhältnisse dürften die Tiere zu besonders schmackhaften Delikatessen gemacht haben. Und in den langen Wintern konnten die Bauern ihre Knechte und Mägde entbehren und zum Verkauf der Schnecken auf die Reise schicken.
Diese guten Lebensbedingungen für Schnecken gibt es rund um Hayingen noch heute. Und so haben sich sieben Züchter und einige Gastronomen gemeinsam mit den Wissenschaftlern im Jahr 2004 zum Projekt "Albschneck" zusammengeschlossen und wollen die Weinbergschnecke wiederbeleben - gemäß der alten Traditionen:
Nach Jakobi (25. Juli) wurden traditionell wilde Weinbergschnecken gesammelt. Vorher sollten sie Zeit zur Eiablage haben. Bis zum Beginn des Winters kamen sie zur Mast in Gehege mit speziellen Zäunen. Wenn die Temperaturen weit genug zurückgingen, verkrochen sich die bis zu acht Zentimeter langen Zwitterwesen in ihr Haus, verschlossen es mit einem Deckel aus Kalk und konservierten sich so selbst. Nachvollziehen lässt sich das Gewerbe heute am historischen Schneckengarten unterhalb der Burg Derneck in Hayingen-Weiler.
Rita und Walter Goller betreiben bei Münsingen zwei Schneckengärten und bieten Führungen an. Weil Helix pomatia inzwischen nicht mehr gesammelt werden darf, sind die Gollers keine Mäster wie die Albbauern der früheren Jahrhunderte, sondern Züchter. Bis ein Tier schlachtreif ist, vergehen drei bis vier Jahre. Solange mästet es Goller "mit allem, was breite Blätter hat": Salat, Löwenzahn, Sonnenblumen, Mangold, aber auch mit Gewürzen wie Wiesenkerbel oder Majoran. Der Effekt: "Unsere Schnecken haben einen erdigen, moosigen Geschmack - wie zartes Kalbfleisch."
Nicht nur die Aufzucht, auch die Zubereitung ist aufwendig, sagt Gastronom Franz Kloker vom Gasthof Hirsch in Indelhausen, der Hauptabnehmer der Albschnecken. In kochendem Wasser löst er zunächst die Deckel ab. Erst nach 90 Minuten in einer Gemüsebrühe sind die Schnecken gar. Für sein Spezial-Menü verarbeitet er etwa 30 Schnecken in allen Gängen - sogar im Dessert: Schnecke an Früchten süß-sauer. "Das ist meine Spezialität", erzählt er stolz. "Mit ein bisschen Balsamico-Essig abgelöscht und was Süßes dazu."
Trotz der ausgefallenen Rezepte: Nach gut fünf Jahren Albschneck-Projekt und einigen Rückschlägen bei der Zucht ist Professor Roman Lenz skeptisch geworden, ob sich heute eine stabile, wirtschaftlich rentable Zucht der Schnecken erreichen lässt. Gesammelte Schnecken aus Polen gebe es für fünf Cent das Stück. Damit werde die Weinbergschnecke von der Alb wohl ein Nischenprodukt für Gourmets bleiben.