Corona-Drama in Bergamo:
Zeitung druckt täglich elf Seiten Todesanzeigen
22.03.2020"Da Trauerzeremonien derzeit nicht stattfinden können, sind für viele Angehörige Anzeigen der einzige Weg, ihrem Leid Ausdruck zu geben", so der Chefredakteur der Lokalzeitung.
Vom industriellen Motor der Lombardei zum Wuhan Europas: Die geschäftstüchtige Stadt Bergamo, bekannt für ihre Chemie- und Baumaterial-Produktion, den Stahlbau, sowie ihre Forschungsinstitute, ist in wenigen Wochen zum Lazarett Italiens geworden. Bergamo und Umgebung sind mit 5.869 Infizierten und fast tausend Toten das Zentrum der Pandemie in Europa. Wie ernst die Lage dort ist, beschreibt der Mediziner Christian Salaroli vor Ort. "Wenn jemand zwischen 80 und 95 Jahre alt ist und große Atemprobleme hat, reservieren wir die wenigen noch vorhandenen Plätze in den Intensivstationen für Patienten mit größeren Überlebenschancen. Das gleiche gilt, wenn eine mit dem Virus infizierte Person eine Insuffizienz in drei oder mehr lebenswichtigen Organen aufweist", erklärt der Narkosearzt.
Keine italienische Stadt ist so stark vom Coronavirus betroffen. Die Zahl der Toten ist so hoch, dass seit Tagen die Lagerkapazität der Leichenhalle in Bergamo ausgeschöpft ist. Dies gilt auch für den einzigen Krematoriumofen, der derzeit 24 Stunden durchgehend läuft. Sowohl der Friedhof, als auch die Bestattungsinstitute sind seit längerem nicht mehr aufnahmefähig. In der 120.000-Einwohner-Stadt sind Transporter der Armee pausenlos auf den Straßen unterwegs, um die Särge der Verstorbenen zu den Krematorien anderer Regionen zu bringen. Die Bilder des langen Konvois von Militärlastwagen erschütterten die Welt.
"Das sind nicht nur Zahlen. Das sind Menschen"
Jeder zehnte Patient stirbt laut Statistik derzeit in der Lombardei an den Folgen des Virus. Das ist dreimal so hoch wie im Rest des Landes. Etwas, das diese Schock-Zahlen besser verdeutlicht, ist ein Foto von Sterbeanzeigen. Allerdings sind diese elf Seiten lang. Veröffentlicht wurden sie in der Lokalzeitung "L'Eco di Bergamo", die für die 150 Namen ihren Seitenumfang erhöhen mussten. Normalerweise sollten sie zwei bis drei Seiten einnehmen. "Da Trauerzeremonien derzeit nicht stattfinden können, sind für viele Angehörige Todesanzeigen der einzige Weg, ihrem Leid Ausdruck zu geben. Durch Traueranzeigen wird einem klar, dass die Covid-Toten Menschen und nicht nur Zahlen sind", sagt Chefredakteur Alberto Ceresoli. Wie es heißt sollen 90 Prozent der Sterbefälle das Virus zu verantworten haben. Die meisten der Opfer sind 70 Jahre oder älter.
"Leider sehen wir immer noch kein Licht am Ende des Tunnels. Ich hoffe, dass sich in den nächsten Tagen die Situation bessert", kommentierte der Bürgermeister Giorgio Gori die Lage. Soldaten sind bei der Errichtung eines Feldkrankenhauses auf dem Messegelände Bergamos im Einsatz. Hier sollen Plätze für 300 Covid-Kranke entstehen, davon 100 auf der Intensivstation.
Angehörige können sich nicht einmal mehr verabschieden
Bergamo trauert um eine ganze Generation von Menschen, die dem Coronavirus erlegen ist. Fast jede Familie weint um einen Angehörigen, der mit Coronavirus-Symptomen in die Intensivstation eingeliefert wurde und in wenigen Tagen allein sterben musste, ohne dass Verwandte ihm zur Seite stehen konnten. Viele Menschen konnten sich nur mehr per Telefon von dem Sterbenden verabschieden. Auf eine Trauerzeremonie muss verzichtet werden, da diese jetzt verboten sind.
Severa Belotti (82) und Luigi Carrara (86) aus der Gemeinde Albino bei Bergamo waren seit 60 Jahren verheiratet. Sie erlagen im Abstand von nur wenigen Stunden dem Coronavirus. "Ich habe von ihnen nicht Abschied nehmen können. Sie sind allein auf der Intensivstation gestorben, so geht es mit diesem fürchterlichen Virus fast jedem. Meine Eltern waren zwar ältere Menschen, sie waren aber bisher gesund", berichtete der Sohn der Opfer, Luca Carrara.
Täglich berichtet Ceresoli über den Kampf seiner Stadt gegen die Pandemie. "Ein ehrenamtlicher Helfer des Roten Kreuzes, ein Arzt, ein Carabiniere, ein Dutzend Priester: Das sind nur einige der Opfer des Coronavirus in einer Stadt, die wegen dieser Epidemie einen unermesslich hohen Preis zahlt. Es handelt sich um Menschen, die im Dienst für andere standen, die gestorben sind, während sie sich um die Mitmenschen kümmerten", meint Ceresoli.
Snowboard-Profi trauert um ihre Oma
Auch Prominente beklagen Verluste. So trauert die aus Bergamo stammende Snowboard-Weltcupgesamt- und Olympiasiegerin Michela Moioli um ihre Großmutter. "Fünf Minuten lang hat die Abschiedszeremonie von meiner Großmutter gedauert. Und dabei hatten wir noch Glück: Viele können sich von ihren Angehörigen nicht einmal verabschieden", sagte Moioli. Auch ihr Großvater Antonio habe Covid-19. Ihre Goldmedaille widmete sie ihrer Stadt, die sich in der Epidemie heldenhaft tapfer zeige.
Gesundheitssystem steht vor dem Kollaps
Das lombardische Gesundheitssystem steht angesichts der Lawine neuer Infektionsfälle vor dem Kollaps. Daniele Macchini, Chirurg im Krankenhaus "Humanitas Gavazzen" von Bergamo, berichtet von einem täglichen Drama, das sich in den Spitälern der Lombardei abspielt. "Ein Krieg ist im Gange und wir kämpfen Tag und Nacht an vorderster Front", meint Macchini. Dabei kommen auch Mediziner ums Leben. Mindestens 17 Ärzte sind seit Beginn der Epidemie gestorben. Circa 10 Prozent aller Infizierten sind Sanitäter.