Experten warnen: Ende März könnte das Gesundheitssystem an seine Kapazitätsgrenzen gelangen.
Im Gesundheitsausschuss fand am Montag ein Expertenhearing zu den in Österreich seit Ausbruch der Pandemie gesetzten Corona-Maßnahmen sowie zur aktuelle Lage statt. AGES-Abteilungsleiter Franz Allerberger, Tropenmediziner Herwig Kollaritsch, Allgemeinmedizinerin und Mitglied des Beraterstabs des Gesundheitsministeriums Susanne Rabady, Public-Health-Experte Martin Sprenger und Ärztekammerpräsident Thomas Szekeres standen den Abgeordneten Rede und Antwort.
Allerberger befürchtet einen weiteren Gipfel an Erkrankungen in etwa vier Wochen, der das Gesundheitssystem an seine Kapazitätsgrenzen bringen könnte. Das müsse aber nicht zwingend zu einem weiteren Lockdown führen, Öffnungen in der Gastronomie halte er für möglich. Laut Kollaritsch habe man in Österreich das Contact-Tracing "verschlafen", die Testoffensive mit den Eingangstests begrüße er aber. Laut Rabady sei ab einer gewissen Anzahl an Erkrankten eine ausreichende ambulante Versorgung nicht mehr möglich. Sprenger zeigte sich überzeugt, dass Österreich besser durch die Pandemie gekommen wäre, wenn soziale Aspekte besser berücksichtigt worden wären. Für Szekeres gibt es Versäumnisse in der Erforschung von Medikamenten gegen schwere Verläufe. Es gelte nun, ausreichend Impfstoff zu beschaffen.
Allerberger: Gesundheitssystem wird noch einmal an Grenzen gelangen
Für Franz Allerberger, Leiter der Abteilung "Öffentliche Gesundheit" der AGES, ist die Corona-Pandemie ein Beleg dafür, wie gut Österreich in Gesundheitsfragen aufgestellt war. Er führte etwa das epidemiologische Meldesystem an, für das viele Länder Österreich beneidet hätten. Seiner Meinung nach ist die "apokalyptische Pandemie", wie sie anfangs vorausgesagt worden sei, nicht eingetreten. Die Übersterblichkeit sei zwar dramatisch, jedoch habe es auch in vergangenen Jahren aufgrund der Grippe eine deutliche Übersterblichkeit gegeben. Er schätzt, dass etwa 30% der Bevölkerung immunisiert sind. Im Umkehrschluss bedeute das, dass rund 70% noch nicht immun sind, die Impfung werde erst langsam greifen. Allerberger bezeichnete COVID-19 als eine saisonale Erkrankung, für die, ähnlich wie bei der Grippe, eine jährliche Schutzimpfung nötig sein wird. Für dieses Jahr mahnte er, man solle sich noch nicht in falscher Sicherheit wiegen: Der Winter sei noch nicht vorbei, er befürchte einen weiteren Gipfel an Erkrankungen, bei dem auch das Gesundheitssystem wieder an seine Grenzen gelangen könnte.
Nachfragen zu diesem erwähnten weiteren Gipfel kamen etwa von ÖVP-Abgeordneter Gabriela Schwarz und Abgeordnetem Rudolf Silvan (SPÖ). Schwarz wollte wissen, worauf Allerberger diese Annahme fuße. Silvan stellte vor diesem Hintergrund eine Sinnhaftigkeit von weiteren Öffnungen, etwa in der Gastronomie, in Frage. Allerberger berief sich darauf, dass aufgrund der ansteckenderen Virusvarianten die Sieben-Tage-Inzidenz langsam steige. Wenn die Modellrechnungen Recht behielten, könnte es in etwa vier Wochen zu einem weiteren Gipfel kommen, zumal die Effekte der Impfung noch gering seien. Das müsse aber nicht zwingend zu einem weiteren Lockdown führen, so Allerberger. Man müsse den Mut haben, ein gewisses Restrisiko bewusst in Kauf zu nehmen. Das Wirtschaftsleben und das Bildungssystem lahmzulegen, sei seiner Meinung nach nicht erforderlich, auch Öffnungen in der Gastronomie halte er für möglich.
Von Angela Baumgartner (ÖVP) zur Zuverlässigkeit von Antigen- und PCR-Tests befragt, führte Allerberger aus, dass PCR-Tests der Goldstandard seien, keiner der Tests jedoch perfekt sei. Die schnellen Ergebnisse der Antigentests seien ein großer Vorteil und hilfreich, um Ausbrüche zu identifizieren. Werner Saxinger (ÖVP) wollte wissen, ob Menschen ohne Symptome dennoch andere anstecken könnten. Dies bejahte Allerberger klar. Er habe bisher erst eine Handvoll Personen ohne Symptome gesehen, die meisten seien präsymptomatisch. Beide Gruppen könnten das Virus übertragen, wenngleich die Wahrscheinlichkeit bei asymptomatischen Personen geringer sei.
Kollaritsch: November-Lockdown kam zwei Wochen zu spät
Herwig Kollaritsch, Facharzt für spezifische Profilaxe und Tropenmedizin, sagte mit Blick auf den Beginn der Pandemie, dass niemand vorbereitet gewesen sei und das auch nicht möglich gewesen wäre. Jede Pandemie laufe nämlich anders ab. Vor diesem Hintergrund sei die erste Reaktion in Österreich vorbildlich gewesen. Der erste Lockdown sei zeitgerecht und rigoros verhängt worden. Die Kommunikation und Akzeptanz in der Bevölkerung habe anfangs gut funktioniert. Als besonders positiv hob Kollaritsch die Testoffensive hervor, die nun mit den Eingangstests einen Schub erfahre. Er führte aber auch negative Aspekte an. So bezeichnete er es als Versäumnis, dass anfangs nicht ausreichend Schutzausrüstung vorhanden gewesen sei. Das Contact-Tracing habe man "verschlafen". Österreich hole hier zwar auf, sei aber nach wie vor nicht an der internationalen Spitze. Dass es außer der AGES keine einsatzbereite Verwaltungsbehörde auf Bundesebene gegeben habe, sei ebenso zu kritisieren wie ein fehlender Master-Plan bei der Zusammenarbeit von Bund und Ländern. Der zweite Lockdown im November sei laut Kollaritsch zwei Wochen zu spät verhängt worden. Ihm habe außerdem weh getan, dass die Corona-Ampel keine Kompetenzen zur Umsetzung regionaler Maßnahmen erhalten habe.
Josef Smolle und Irene Neumann-Hartberger (beide ÖVP) wollten von Kollaritsch wissen, wie sich die Lage ohne Maßnahmen zur Eindämmung entwickelt hätte oder weiter entwickeln würde. Zum Glück wisse man das nicht, sagte Kollaritsch. Es gebe Berechnungen, etwa aus Großbritannien, die zeigten, dass es schlimm geworden sei. Martina Diesner-Wais (ÖVP) erkundigte sich, ob es sinnvoll sei, Kultur-, Sport- und Gastronomieeinrichtungen zu öffnen. Mit dem Instrument des Eingangstests könne man dies andenken, so Kollaritsch. Er plädierte jedoch dafür, die epidemiologische Entwicklung noch zwei Wochen genau zu beobachten, bevor Entscheidungen getroffen werden. Peter Wurm (FPÖ) fragte nach, wann es eine flächendeckende Antikörper-Studie gebe. Eine solche sei nicht sinnvoll, entgegnete Kollaritsch, zumal Österreich weit von einer Herdenimmunität entfernt sei und bei den neuen Mutationen mit einer Gefahr der Reinfektion zu rechnen sei.
Verena Nussbaum (SPÖ) sprach den Bereich der Impfungen an und wollte wissen, wie Österreich tätig werde, um weitere Impfstoffe zu erhalten. Österreich habe genug bestellt, es handle sich um ein Lieferproblem der Hersteller, sagte Kollaritsch. Mehrsprachige Informationsmaterialien zur Impfung, wie sie von Ralph Schallmeiner (Grüne) thematisiert wurden, befürwortete der Experte. Es sei wichtig, die Impfbereitschaft zu erhöhen, insbesondere Menschen mit Migrationshintergrund müsse man besser erreichen.
Rabady: Bei zu vielen Erkrankten ist Versorgung durch HausärztInnen nicht mehr ausreichend möglich
Susanne Rabady, Landärztin und Mitglied des Beraterstabs der Corona-Taskforce im Gesundheitsministerium, brachte die Perspektive der niedergelassenen ÄrztInnen ein. Die Erfahrung zeige, dass es den PatientInnen auch bei milden Verläufen oft ziemlich schlecht gehe, die Betreuung sei schwierig aber machbar. Es gebe jedoch einen Punkt, jenseits dessen eine gute ambulante Versorgung nicht mehr möglich sei, und zwar abhängig von der Anzahl der Erkrankten. Laut Rabady würden nun auch die Langzeitfolgen immer sichtbarer. Nach den zehn Tagen vorgeschriebener Quarantäne seien etwa 60% der PatientInnen noch nicht beschwerdefrei. Langzeitfolgen hätten außerdem nichts mit dem Alter oder Vorerkrankungen zu tun und nur wenig mit der Schwere des Verlaufs. Rabady zeigte sich überzeugt: Insgesamt helfe nur eine Prävention der Infektion. Sie bedauerte zudem, dass sich noch immer viele Menschen bei anderen Krankheiten nicht in die Praxen trauen würden. "Kranke Menschen gehören zum Arzt", betonte sie. Positiv beobachte sie, dass es keine Influenza und kaum Infekte gebe. Ihr sei wichtig, dass das ganze Spektrum herangezogen werde. Die Mortalität der Pandemie sei wichtig, sollte aber nicht die einzige Entscheidungsgrundlage sein.
Ralph Schallmeiner (Grüne) befragte Rabady zu den Antigentests für zu Hause, die bald in Apotheken angeboten werden sollen. Sie könne diesen Tests einiges abgewinnen, es sei nur wichtig, dass positive Ergebnisse auch eingemeldet werden, sagte die Ärztin. Das Wort "Kollateralschäden", das etwa Dagmar Belakowitsch (FPÖ) und Ralph Schallmeiner (Grüne) ins Treffen gebracht hatten, sei ihr zu unscharf, führte Rabady aus. Es handle sich teilweise um Folgen der Pandemie, teilweise um Nebenwirkungen der gesetzten Maßnahmen. Vieles, etwa Ungleichheiten in der Gesellschaft, habe es immer schon gegeben, sie würde jetzt nur sichtbarer. Man solle nicht nur auf das Negative starren, sondern auch berücksichtigen, welche Ressourcen man habe bzw. welche positiven Konzepte bereits vorhanden seien. Gerald Loacker (NEOS) wollte wissen, wie die Impfungen im niedergelassenen Bereich logistisch möglich seien. Rabady sprach sich hier für ein Mischsystem aus Impfstraßen und der Mithilfe von HausärztInnen aus. In den Praxen alleine könne die Impfleistung nicht gestemmt werden, sagte sie.
Sprenger: Erkrankungsgeschehen sozial ungleich verteilt
Der Wissenschafter und Experte für Public-Health Martin Sprenger thematisierte in seinen Ausführungen die soziale Seite der Pandemie. Er forderte mehr Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen: Die Wirkung müsse höher sein als die Nebenwirkung, sagte er. Sprenger legte aber auch dar, dass keine Gesellschaft ohne Schaden durch die Pandemie komme und kein Land in Europa alles richtig oder alles falsch gemacht habe. Alle hätten sich bemüht, so der Experte. Er betonte, dass das Erkrankungsgeschehen sozial ungleich verteilt sei. Das Infektionsrisiko sei bei Menschen in prekären Wohn- oder Arbeitsverhältnissen höher, zudem seien diese mehr bedroht von Arbeitslosigkeit, Delogierung und Armut. Ebenso sei Bildung eine der wichtigsten Gesundheitsdeterminanten, sagte er. Sprenger kritisierte, dass keine ausreichende Datenbasis geschaffen worden sei und dass viele Vorschläge aus der Wissenschaft ungehört blieben. Zudem schwäche "Message Control" ein gemeinsames Lernen im Umgang mit der Pandemie und das Vertrauen der Bevölkerung. Er zeigte sich überzeugt, dass Österreich besser durch die Pandemie gekommen wäre, wenn die sozialen Facetten besser berücksichtigt worden wären.
Philip Kucher (SPÖ) wollte wissen, wo die Politik in der Krisenkommunikation besser werden könne. Dagmar Belakowitsch (FPÖ) sprach in diesem Zusammenhang auch eine Spaltung der Gesellschaft an. Laut Sprenger war die Kommunikation in Österreich bis Ende März 2020 gut, dann sei sie gekippt in Richtung Angstmache und Polarisierung. Er führte die skandinavischen Länder als Musterbeispiele in der Krisenkommunikation an. Von Gerald Loacker (NEOS) zur Datenintransparenz befragt, verwies Sprenger etwa nach Deutschland und in die Schweiz, wo es Wochenberichte zur Pandemieentwicklung gebe, die in Österreich fehlten. Man habe verabsäumt, die vorhandenen Daten offenzulegen, kritisierte er.
Szekeres: Zu wenig internationale Forschung für Medikamente
Der Präsident der Österreichischen Ärztekammer, Thomas Szekeres, brachte die Behandlung von schweren COVID-19-Verläufen ins Treffen. Österreich habe im vergangenen Jahr viel gelernt, nicht jedoch, wie man schwere Verläufe verhindern könne. Er sprach sich für mehr internationale Zusammenarbeit und Forschung zu Medikamenten aus. Datenbanken würden hier zudem eine bisher ungenützte Chance bieten, sagte er. Wenn es Therapiemöglichkeiten gebe, die einen schweren Verlauf verhindern können, hätte man der Krankheit das Tückische genommen, zeigte sich Szekeres überzeugt. Beim Contact-Tracing äußerte er Bedauern, dass sich elektronische Tools wie die Corona-App nicht durchgesetzt haben. Bei so vielen Fällen pro Tag sei es sehr schwierig, die Kontakte händisch nachzuverfolgen. Schließlich appellierte er an die Politik, alles zu versuchen, um mehr Impfstoff zu beschaffen. Die ÄrztInnen des Landes könnten jedenfalls sehr schnell impfen, wenn genug Impfstoff verfügbar sei, sagte der Experte.
In diesem Zusammenhang erkundigte sich Elisabeth Scheucher-Pichler (ÖVP) nach der Wirksamkeit der Impfstoffe. Szekeres legte dar, dass die in Europa zugelassenen Stoffe gut seien. Welche Impfung auch gegen die südafrikanische Mutation wirke, sei noch nicht geklärt. Es bestehe derzeit zwar die Befürchtung, dass einzelne Impfstoffe hier schlechter wirken, es gebe aber noch keine Studien über den entsprechenden Schutz. Er befürchte jedenfalls, dass die Impfung jährlich wiederholt werden müsse. Von Fiona Fiedler (NEOS) zur Organisation der Impfungen angesprochen, sprach sich Szekeres dafür aus, dass dies im niedergelassenen Bereich ebenso stattfinden solle wie in großen Impfstraßen. Impfaktionen wie etwa in der Messe Wien seien skalierbar, sodass 100.000 Impfungen pro Tag möglich seien, zeigte er sich überzeugt. Gabriele Heinisch-Hosek (SPÖ) kritisierte, dass viele Erkrankungen abseits von COVID-19 nicht rechtzeitig erkannt werden, weil die Menschen nicht zu den Vorsorgeuntersuchungen gingen. Die Ärztekammer habe bereits nach dem ersten Lockdown in Inseraten zu Vorsorgeuntersuchungen aufgerufen. Die Spitäler und Ordinationen seien für die PatienInnen sicher, betonte Szekeres.