Politologe: 'EU-Kommission ist auf Null geschaltet'
Im Kampf gegen das Coronavirus haben EU-Mitgliedstaaten ihre Grenzen geschlossen, EU-Bürgern wird die Durchreise verwehrt, Grundrechte werden massiv eingeschränkt. Auf Mahnungen zu Solidarität warte man von der Europäischen Kommission allerdings umsonst, kritisiert Andreas Maurer, Politikwissenschafter der Uni Innsbruck, im APA-Gespräch. "Die EU-Kommission ist komplett auf Null geschaltet."
Gerade zeige sich, dass in Krisenzeiten von der europäischen Solidarität nicht viel übrig bleibe. Deutschland und Frankreich haben zu Beginn der Corona-Krise auf Hilferufe aus Italien und der Schweiz mit Ausfuhrverboten für Atemmasken reagiert, in Ungarn versucht der rechtsnationale Premier Viktor Orban am Parlament vorbei unbefristet per Notstandsgesetz zu regieren und EU-Binnengrenzen werden ohne die vorgesehenen Notifikationen und Begründungen geschlossen, wie Maurer betont. Von der Europäischen Kommission werde all das aber nicht einmal kommentiert.
Kommission schaut nur zu
Sie nehme ihre Rolle als Hüterin der Verträge nur noch beim europäischen Warenverkehr und Binnenmarkt wahr und unterstütze die Staaten durch Finanzspritzen und die Freigabe der Defizitregeln der europäischen Wirtschaft. Der freie Verkehr von Personen und Dienstleistungen werde unterdessen gerade von den einzelnen Staaten aufgehoben. "Die Mitgliedsstaaten ziehen aus der Sprachlosigkeit der Kommission den Schluss, dass sie das dürfen und reduzieren ihr politisches Handeln im zunehmenden Maße nur noch auf den eigenen Staat."
Ein Problem für die Kommission sei sicher, dass sie im Gesundheitsbereich mit keinerlei Ressourcen ausgestattet ist und dieser wegen der unterschiedlichen Finanzierung des Gesundheitswesens auch explizit von Harmonisierungen ausgenommen ist. Einzige Ausnahme sind harmonisierte Regelungen, die nach dem Ausbruch des Rinderwahns erlassen wurden.
Jedes Land schaut auf sich selbst
Nachdem aber mit weiteren Pandemien zu rechnen sei, plädiert Maurer dafür, auch bei Corona gemeinsame harmonisierte Verordnungen und Regeln zu erlassen. "Das Problem ist: Wir finden weder in der Kommission noch in den Mitgliedsstaaten einen Politiker, der auch nur ansatzweise in diese Richtung denkt. Es geht gegenwärtig nur um den Schutz der jeweiligen nationalen Bevölkerung. Die Mitgliedsstaaten machen das aus der Not heraus und weil es seitens der Europäischen Kommission keine mahnenden Worte gibt."
Die europaweite Maßnahme zum Ankauf von Atemschutzmasken ist für Maurer ein "positives Signal". Er versteht allerdings nicht, wieso die EU nicht selbst in leer stehenden Fabriken die Herstellung von Schutzmasken, -bekleidung und Beatmungsgeräten übernimmt. "Es fehlt schlicht der Mut bei der Kommission und die Bereitschaft der Mitgliedsstaaten über diesen nationalen Impuls hinweg zu gehen und zu sagen: Es ist ein grenzüberschreitendes Problem, insofern müssen wir auch grenzüberschreitend arbeiten."
Für die Zeit nach der Krise sieht Maurer gröbere Aufräumarbeiten auf die EU zukommen. Man werde etwa die Frage klären müssen, wie europäische Solidarität in der EU unabhängig von einzelnen Politikfeldern aussehen kann. "Wenn man Solidarität will, dann gilt das für alle Felder und nicht nur für zwei oder drei." Auch die Rückkehr zur kompletten Personen- und Warenfreizügigkeit werde eine Herausforderung. "Dafür brauchen wir die Kommission, die den Impuls dafür liefert. Aber ich sehe gegenwärtig nicht, dass das von (Kommissionspräsidentin Ursula, Anm.) von der Leyen kommen könnte."
Maurer kann sich auch vorstellen, dass die Kommission für ihre Passivität in der aktuellen Situation vom EU-Parlament noch abgestraft werden wird. Er rechnet mit einem Untersuchungsausschuss, um all die einseitigen Maßnahmen zur Bekämpfung der Ausbreitung von Corona nachzuvollziehen und zu verurteilen. Er kann sich auch die Einleitung eines Misstrauensvotums gegen die Kommission vorstellen, weil sie etwa bei den Grenzschließungen nicht auf die Einhaltung des EU-Recht gepocht hat. "Es gibt Kommissare, die dafür zuständig sind, darauf zu reagieren. Wenn sie das nicht machen, dürfen sie sich nicht wundern, wenn das Europäische Parlament sagt: Ich seid hier im falschen Job, ihr müsst gehen."