Die Lage in Indien wird immer dramatischer: "Es ist, als ob wir mitten im Krieg wären."
Indien steht vor dem Corona-Kollaps. Das zweitbevölkerungsreichste Land der Welt hat mit 360.960 Corona-Neuinfektionen erneut einen weltweiten Höchstwert gemeldet. Gleichzeitig überschreitet Indien die Schwelle von 200.000 Todesfällen. 3.293 weitere Menschen starben in Verbindung mit dem Virus und damit so viele wie nie zuvor, wie das Gesundheitsministerium am Mittwoch mitteilt. Damit stieg die Zahl der Todesfälle in dem südasiatischen Land auf insgesamt 201.187.
"Wie im Krieg"
Am schlimmsten betroffen ist Neu-Delhi. Ärzte beschreiben, wie sie Patienten in kritischem Zustand auf der Straße sterben lassen müssen, weil es an Krankenhausbetten oder medizinischem Sauerstoff fehlt.
„Das Virus verschlingt die Menschen in unserer Stadt wie ein Monster“, schildert ein Beamter des sättischen Krematoriums die Lage „Wir verbrennen einfach die Leichen, wenn sie ankommen. Es ist, als ob wir mitten im Krieg wären.“ Vielerorts würde man mit dem Einäschern gar nicht mehr nachkommen und die Corona-Toten einfach auf Parkplätzen verbrennen.
"Wir sind nur Kanonenfutter"
Das System steht vor dem Kollaps –viele Ärzte können nicht mehr. Siddharth Tara, Medizinstudent an Neu-Delhis staatlichem Hindu Rao Hospital, hat selbst Fieber und starke Kopfschmerzen. „Ich bin nicht in der Lage zu atmen. Tatsächlich bin ich symptomatischer als meine Patienten. Wie können sie mich also arbeiten lassen? Wir sind Kanonenfutter, das ist alles“, schildert der Mitarbeiter der Agentur AP. Das Ergebnis seines Corona-Tests verzögert sich.
Drosten: Mehrere Effekte bei Lage in Indien anzunehmen
Der deutsche Virologe Christian Drosten zeigt sich angesichts der bisherigen Erkenntnisse über die indische Corona-Variante B.1.617 weiter relativ gelassen. Anhand der sehr kleinen verfügbaren Datenbasis lasse sich schließen, dass die Mutante nicht allein die heftige Infektionswelle in dem Land verursache, "sondern das ist mehr eine bunt gemischte Virus-Population", sagte der Wissenschafter von der Charité in Berlin im Podcast "Coronavirus-Update" vom Dienstagabend.
In Indien kommen derzeit aus Sicht Drostens mehrere Effekte zusammen: Herdenimmunität sei dort einer Studie zufolge bei weitem noch nicht erreicht gewesen. Es werde nun eine Bevölkerung durchseucht, die schon ein bisschen die Anfangsimmunität aus den bisherigen Wellen zu verlieren beginne, sagte der Virologe. Gleichzeitig sei die Variante B.1.617 etwas verbreitungsfähiger und robuster gegen die Immunität. In der Fachsprache ist von Immunescape (Immunflucht) die Rede. Diese Eigenschaft sei bei B.1.617 leicht ausgeprägt. Das sei auch im Vergleich mit anderen Varianten "nichts, was einen wirklich groß beunruhigt".
Im Moment halte er die Variante B.1.617 "in der Medienbewertung überschätzt", sagte Drosten. Auch gebe es keine Belege, dass Menschen durch sie schwerer erkrankten. "Wenn viele Leute zur gleichen Zeit infiziert werden, dann hat man auch bei den jüngeren Altersgruppen auf einmal, absolut gesehen, ganz viele Kranke in einem kurzen Zeitfenster." In Indien sei zudem die Grundgesundheit der Bevölkerung weniger gut als etwa in Deutschland, was den Effekt der jüngeren Bevölkerung wieder etwas ausgleiche. Drosten machte aber deutlich, dass sich der Sachstand ändern kann: "Es kann sein, dass in zwei Monaten sich herausstellt, dass doch irgendwas ist mit diesem Virus."