Als sich im November 2022 in China die Proteste gegen die strikten Corona-Maßnahmen ausweiteten, nutzte der Chef der Covid-Taskforce, Li Qiang, die Gunst der Stunde.
In den vorangegangenen Wochen hatten Spitzenbeamte und Medizinexperten im Stillen Pläne ausgearbeitet, um die Null-Covid-Strategie von Präsident Xi Jinping aufzuweichen und das Land schrittweise wieder zu öffnen.
Das Ziel sei gewesen, im März die Rückkehr zur Normalität zu verkünden, sagten vier mit der Angelegenheit vertraute Personen gegenüber Reuters. Li, der auf dem am Sonntag beginnenden Volkskongress zum Ministerpräsidenten ernannt werden soll, ging das nicht schnell genug: Er drängte darauf, die Pläne zur Wiedereröffnung früher als geplant in Kraft setzen, um die wirtschaftlichen Folgen der Null-Covid-Politik und die immer wieder aufflackernden Proteste einzudämmen. Das Ergebnis war eine chaotische Wiedereröffnung im Dezember, als China plötzlich Abriegelungen, Massentests und andere Einschränkungen aufhob.
Entscheidungsprozess nicht erläutert
Peking hat den Entscheidungsprozess, der zu dieser Kehrtwende geführt hat, nicht öffentlich erläutert. Die Nachrichtenagentur Reuters hat Chinas Weg zur Öffnung nachgezeichnet und unter der Zusage von Anonymität mit mehr als einem halben Dutzend Insidern gesprochen. Die bisher nicht veröffentlichten Details bieten einen seltenen Einblick in die Beratungen zwischen hochrangigen chinesischen Beamten und Gesundheitsexperten, einschließlich der Differenzen zwischen Li und Xi über das Tempo der Wiedereröffnung. Fragen von Reuters nach Stellungnahmen wurden vom Presseamt des Staatsrats, von Pekings Regionalregierung, dem Zentrum für Seuchenkontrolle (CDC) und anderen Behörden nicht beantwortet.
Den Wendepunkt brachten die Proteste gegen die Null-Covid-Politik im November, wie zwei der Insider sagten. Chinas Führung habe sich für eine Öffnung entschieden, um die jungen Demonstranten zu besänftigen. Die Bedrohung, die in den beispiellosen Protesten für die Stabilität der Regierung gesehen wurde, sei als politisch riskanter beurteilt worden als eine ungebremste Verbreitung des Corona-Virus, lautet das Fazit dieser Personen. Präsident Xi, bis dahin ein starker Verfechter der Null-Covid-Politik, habe sich schließlich zurückgezogen und seinen langjährigen Verbündeten Li machen lassen.
Neuer Kurs
Noch während des 20. Kongresses der Kommunistischen Partei Mitte Oktober, auf dem sich der Staats- und Parteichef eine dritte Amtszeit sicherte und sein neues Führungsteam vorstellte, hatte Xi seinen rigiden Kurs bei der Bekämpfung des Virus verteidigt. Doch bereits Ende des Monats trafen sich Beamte in Peking, um darüber zu beraten, wie dieser strikte Kurs aufgegeben werden könnte: Wang Huning, seit Anfang 2020 stellvertretender Leiter der zentralen Covid-Taskforce und Mitglied des siebenköpfigen Ständigen Ausschusses des Politbüros - der höchsten Machtebene der Partei - hielt nach Angaben von drei Insidern hinter verschlossenen Türen eine Sitzung mit hochrangigen medizinischen Experten und Beamten ab. Er habe die Teilnehmer mehrmals gefragt, wie viele Todesfälle die Aufgabe der Covid-Kontrollen in einem Worst-Case-Szenario verursachen würde. Schließlich habe er sie dazu gedrängt, verschiedene Fahrpläne für eine Öffnung des Landes zu erarbeiten.
In der Zwischenzeit kämpften lokale Parteimitarbeiter und Beamte des Gesundheitswesens mit den wachsenden Problemen bei der Umsetzung der strengen Anti-Corona-Vorgaben. "Aus meiner Sicht ist es nicht so, dass wir die Maßnahmen lockern wollten. Wir waren auf lokaler Ebene einfach nicht mehr in der Lage, die Null-Covid-Politik durchzusetzen", erzählte ein Beamter, der einen Unterbezirk in Peking mit mehr als 100.000 Einwohnern leitet. Das Geld für die Bezahlung von Test- und Sicherheitsfirmen sei schlichtweg ausgegangen. Dabei gab Pekings lokale Regierung nach offiziellen Angaben 2022 umgerechnet mehr als vier Milliarden Euro für Maßnahmen und Kontrollen aus.
Während an den Plänen zur Öffnung gearbeitet wurde, zeigten die steigenden Corona-Fallzahlen, wie wenig die Behörden noch Herr der Lage waren. Im Herbst hätten Mitarbeiter des chinesischen Zentrums für Seuchenkontrolle (CDC) regelmäßig ihre Vorgesetzten gefragt, ob sie der Öffentlichkeit niedrigere Infektionszahlen melden sollten, sagte ein CDC-Beamter in einer der größten Städte des Landes. Dadurch habe sich der Anschein erwecken lassen, der Ausbruch sei unter Kontrolle. "Zu diesem Zeitpunkt habe ich bis zu 50 Prozent gekürzt", erzählt er.
Gleichzeitig kletterte Li Qiang die Karriereleiter nach oben. Bis Oktober war der 63-Jährige Parteichef in Shanghai, wo er eine zweimonatige, rigorose Abriegelung der 25-Millionen-Metropole beaufsichtigte. Nach dem Parteitag übernahm er als Mitglied des Ständigen Ausschusses des Politbüros und Leiter der Covid-Taskforce die Verantwortung für Chinas Kampf gegen das Virus. Am 11. November verkündete das Land erste, moderate Lockerungen der strengen Corona-Vorschriften. Xi selbst begann, weniger Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Er trat in der Öffentlichkeit ohne Maske auf, etwa bei seinem Treffen mit US-Präsident Joe Biden vor dem G20-Gipfel in Indonesien.
Xi schwenkte um
Doch als die heimischen Fallzahlen stiegen, habe Xi geschwankt und die Behörden Mitte November angewiesen, die Null-Covid-Politik wieder unbeirrt durchzusetzen, sagten zwei mit dem Vorgang betraute Personen. Daraufhin verschärften einige Städte die Maßnahmen wieder. Diese Unentschlossenheit habe unter den chinesischen Spitzenpolitikern zu einer erneuten Debatte über die Corona-Politik geführt, wie die Insider berichteten. Zu diesem Zeitpunkt deutete vieles darauf hin, dass das Wirtschaftswachstum des Landes auf eines der schlechtesten Niveaus seit knapp einem halben Jahrhundert sinken würde. Li hielt den Insidern zufolge dem Druck des Präsidenten stand, das Tempo der Wiedereröffnung zu verlangsamen. Stattdessen ermutigte er die lokalen Parteifunktionäre, an den Lockerungsmaßnahmen festzuhalten. Inzwischen breitete sich das Virus weiter aus.
Zu dieser Zeit verfolgten Millionen von Chinesen die Fußballweltmeisterschaft in Katar. Bilder von überfüllten Stadien und Fans ohne Masken bewegten zahlreiche Nutzer in den sozialen Medien dazu, ihrem Frust über den krassen Gegensatz zu ihrer Situation freien Lauf zu lassen. Das Fass zum Überlaufen brachte ein tödlicher Brand in einem Hochhaus in Urumqi Ende November, der Hauptstadt der westchinesischen Region Xinjiang. In sozialen Netzwerken verbreitete sich die Ansicht, dass das Gebäude teilweise verschlossen war und es viele Bewohner deshalb nicht rechtzeitig herausschafften. Die darauf folgenden Unruhen schwollen zum größten Protest in Festlandchina seit dem Amtsantritt von Xi an.
Schließlich, unter dem Druck der Proteste und einer schwächelnden Wirtschaft, verkündete China Anfang Dezember eine Abkehr von der strikten Null-Covid-Politik. Damit endeten viele Abriegelungen, Massentests und lokale Reisebeschränkungen. Ursprünglich hätten Tests beibehalten werden sollen, aber Li habe erfolgreich auf eine umfassendere Lockerung ohne Testpflicht gedrängt, sagten zwei der Insider. Nun verbreitete sich das Virus rasant - Krankenhäuser und Krematorien füllten sich, den Apotheken gingen die Medikamente aus. In der Folge schossen auch die Preise für Covid-Medikamente in die Höhe.
Davon unbeeindruckt plädierte Li während einer landesweiten Telefonkonferenz mit Beamten am 25. Dezember dafür, Covid als weniger schwere Krankheit der Kategorie B zu behandeln. "Der Zeitpunkt ist richtig und die Bedingungen stimmen", sagte Li, wie aus einer schriftlichen Zusammenfassung des Treffens hervorgeht, die von Reuters eingesehen und von einer der Quellen als authentisch bestätigt wurde.
Am 16. Februar verkündete Xi nach Angaben der chinesischen Nachrichtenagentur Xinhua einen "entscheidenden Sieg" über Corona und sprach dabei von der niedrigsten Todesrate weltweit. Die Entscheidungen der Partei seien "absolut korrekt" und effektiv gewesen und von der Bevölkerung gut angenommen worden. Kurz darauf erklärten die chinesischen Gesundheitsbehörden die Corona-Epidemie in der Volksrepublik für "grundsätzlich beendet".