Medizin erforscht Lawinenopfer
12.02.2010So tragisch Lawinenunfälle für die Betroffenen und ihre Angehörigen sind, so wichtig sind die daraus gewonnenen Behandlungserfahrungen für die Wissenschaft und Patienten in ganz anderen Bereichen der Medizin. Darauf verwies Univ.-Prof. Norbert Mutz, Leiter der Klinischen Abteilung für Allgemeine und Chirurgische Intensivmedizin an der Universitätsklinik Innsbruck, im Gespräch mit der APA. Die durch die notfall- und intensivmedizinische Betreuung von Lawinenopfern gewonnenen Erkenntnisse seien auf viele andere Gebiete der Medizin übertragbar.
"Wir finden hier eine einzigartige Konstellation von multitraumatisierten Patienten und einer massiven Abkühlung des Körpers vor", führte der Vizerektor der Medizinischen Universität Innsbruck aus. Unter anderem spielen die Forschungsergebnisse aus diesem Bereich für die Herz-, Tumorchirurgie und für die Anästhesie eine bedeutende Rolle. Besonderes Augenmerk werde dabei auf die durch Abkühlung und Erwärmung ausgelösten Vorgängen auf Zellebene gelegt. Beispielsweise sei bei Tumoroperationen, aber auch bei Schädel-Hirn-Traumata der thermische Apsekte einer der zentralen Faktoren. Auch um die Prozesse bei einer Sepsis zu bremsen, werde eine künstliche Abkühlung angewandt.
"Quantensprung" in der Forschung
Vor rund 30 Jahren habe die Wissenschaft begonnen, sich diesem Feld systematisch zu nähern. "Früher war ein Lawinentoter halt ein Lawinentoter", schilderte Mutz. In den vergangenen 20 Jahren habe die Forschung zusehends erkannt, dass "da viel mehr dahintersteckt". Gerade durch die theoretische Medizin und durch die Molekularbiologie sei ein Quantensprung erfolgt. "So wie die Raumfahrt einen Innovationsschub gebracht hat, ist die Forschung im Zusammenhang mit Lawinenunfällen ein wichtiger Impuls für die Wissenschaft", erklärte der Mediziner.
In den vergangenen vier Jahren wurden insgesamt 130 Patienten nach einem Lawinenunfall in die Innsbrucker Klinik eingeliefert, nur 23 haben überlebt. "Zu uns kommen ausschließlich schwere Fälle wie Patienten mit Wirbelverletzungen, Schädel-Hirn-Traumata und jene, die stark unterkühlt sind", erläuterte der Mediziner. Viele waren bereits zum Zeitpunkt der Einlieferung verstorben. "Den tatsächlichen Tod können wir aber erst feststellen, nachdem wir den Patienten aufgewärmt haben", schilderte Mutz.
Die Vorgänge auf dem Gebiet der Makrophysiologie seien weitgehend bekannt. "Darüber wie beispielsweise die Zellverbände reagieren, wissen wir aber zu wenig", sagte Mutz. Dieses Wissen sei jedoch ausschlaggebend, um die richtigen Behandlungsmaßnahmen zu ergreifen. Bisher gebe es keine genauen Grundlagen darüber, was auf Zellebene tatsächlich passiere. Es könne nicht gesagt werden, wann eine Therapie greifen werde und wann es wenig bzw. keine Chancen mehr für das Lawinenopfer gebe.