150.000 Medikamentenabhängige in Österreich

03.03.2010

Eine "zwiespältige" Suchtform, wie es am Dienstagabend der Vorarlberger Psychiater Reinhard Haller bei der 43. Wissenschaftlichen Fortbildungstagung der Österreichischen Apothekerkammer in Saalfelden in Salzburg (bis 5. März) nannte: die Medikamentenabhängigkeit. Betroffen davon dürften in Österreich mindestens 150.000 Menschen sein.

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Erwünschte Heilung von Krankheiten oder Linderung von Symptomen stehen im Fall des Falles am Beginn eines Kontinuums, das mit Missbrauch und Abhängigkeit enden kann. "Man spricht von 'rezeptierter Sucht', von 'stiller Sucht', von 'weißer Sucht', von 'vornehmer Sucht', von 'Oberschicht-' oder gar von 'Privatpatienten-Sucht'", sagte Haller mit Hinblick auf das oft sehr diverse Problem. Der Experte: "Im Unterschied zu allen anderen Suchtmitteln haben Medikamente immerhin einen Indikationsanspruch (Einsatz bei echtem medizinischen Bedarf, Anm.), sie werden von Experten verschrieben und verkauft."

Vielleicht spreche auch der Zeitgeist für einen etwaigen Trend zur Abhängigkeit von Arzneimitteln: "Wir leben in einer Zeit, in der wir unendlich viele Vergnügungen haben können - aber die Depressionen nehmen zu." Viele Arzneimittel hätten ein Abhängigkeitspotenzial. Der Wunsch nach ständiger Kontrolle über die eigene psychische Situation und auch die Verfügbarkeit (Internet) würden Missbrauch etc. begünstigen.

Kritisch sieht Haller die immer wieder kolportierten Zahlen zu den Arzneimitteln-Süchtigen in Österreich: "Wir haben in Österreich mindestens 150.000 Abhängige. Mir scheint, dass die (oft kolportierte, Anm.) Zahl von 250.000 zu hoch ist. Es gibt pro Jahr rund 30.000 stationäre Aufnahmen wegen Medikamentenzwischenfällen und zwischen 1.600 bis 2.400 Todesfälle."

Tranquilizer, Schlafmittel, Antidepressiva, Appetitzügler, Parkinson-Mittel, Analgetika, Migränemedikamente, Hustenmittel und sogar Diuretika (Entwässerungsmittel) könnten missbräuchlich verwendet werden oder gar zur Sucht führen. Haller: "Das weibliche Geschlecht ist zwei bis drei Mal häufiger betroffen als das männliche. An erster Stelle stehen die Schmerzmedikamente, dann die Schlaf- und Beruhigungsmittel. Die Dunkelziffer ist enorm hoch." Wichtig wäre die Aufklärung der Patienten, der möglichst kurze und in möglichst niedriger Dosierung angestrebte Gebrauch von Medikamenten. Bei längerer Anwendung sollten viele der Arzneimittel ausschleichend abgesetzt werden.

Doch Sucht und Abhängigkeit sind keine uniformen Begriffe, sondern umfassen eine breite Palette. Der Psychiater: "Man sollte zwischen Niedrig-Dosis-Abhängigkeit und Hoch-Dosis-Abhängigkeit unterscheiden." Es mache oft keinen Sinn, Geriatriepatienten unter großen Mühen und erheblichen Beschwerden auf Entzug bringen, wenn sie stabil wären.

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