Österreichs Kinder medizinisch vernachlässigt?
28.01.2010Vehemente Kritik am Gesundheitssystem inklusive den Versorgungsmöglichkeiten, welche das Krankenkassensystem bereitstellt, gab es am Donnerstag bei der Präsentation des ersten Berichts zur Lage der Kinder- und Jugendgesundheit in Wien. Laut Unicef liegt Österreich in einem Ranking von 21 Staaten nur an 14. Stelle, in einer Rangliste der OECD unter 30 Staaten sogar nur auf Platz 27.
Bei Tabak- und Alkoholmissbrauch sowie Mobbing in der Schule sei die Alpenrepublik traurige Spitze, hieß es bei der Pressekonferenz. "Oft wird behauptet, Österreich habe das beste Gesundheitswesen der Welt. Allerdings gilt das nicht für den Bereich 'Kinder und Jugendliche'. Die Diskrepanz ist alarmierend und unverständlich", betonte Klaus Vavrik, Kinderarzt und Präsident der Österreichischen Liga für Kinder- und Jugendgesundheit.
Was der Experte mit Verweis auf den Bericht auflistete, hat es in sich: "Es gibt monatelange Wartezeiten auf Therapien. Es gibt Kontingentierungen. Es gibt in Österreich 7.000 Rehabilitationsplätze für Erwachsene, aber keine Spezialabteilung für Kinder. (...) Kinder und Jugendliche haben einen Anteil an der Bevölkerung von 19 Prozent, aber der Anteil an den Gesundheitsausgaben für sie beträgt nur sieben Prozent." 100.000 Kinder würden in manifester Armut leben - für sie und viele andere wären Therapieangebote auf privater Basis oder mit zunehmenden Selbstbehalten unerreichbar. Vavrik: "In Deutschland sind alle Therapien für Kinder kostenlos."
Beim Rauchen - und einem Anteil der 15-Jährigen, die mindestens zweimal pro Woche zur Zigarette greifen, von 27 Prozent -, beim Alkohol - und einem Anteil der 13- bis 15-Jährigen, die schon mindestens zweimal betrunken waren -, und bei den Suiziden (9,5 pro 100.000 in der Altersgruppe der 15- bis 19-Jährigen) nimmt Österreich in einem OECD-Vergleich mit 30 Staaten jeweils eine Stellung in der vordersten Reihe ein, beim Rauchen die Spitzenstellung.
Doch das Gesundheitswesen in Österreich scheint gerade die gesundheitlichen und sozialen Probleme der Kinder und Jugendlichen zu negieren. Irene Promussas, Pharmazeutin, Vorsitzende des Eltern- und Selbsthilfebeirats der Liga für Kinder- und Jugendgesundheit, selbst Mutter eines behinderten und eines nicht behinderten Kindes: "Aus Sicht der Betroffenen gibt es die Zwei-Klassen-Medizin schon lange. Kinder mit chronischen Erkrankungen, seltenen Erkrankungen und Kinder mit Migrationshintergrund kommen schwer an Gesundheitsleistungen heran. Der Behördendschungel wird als schikanös erlebt. "
Extrem negativ auch die Situation für Kinder und Jugendliche, wie sie die Präsidentin des österreichischen Berufsverbandes für Psychotherapie, Eva Mückstein, darstellte: "Die leidende Kinderseele kann sich nicht entfalten. (...) 15 bis 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen leiden an krankheitswertigen psychischen Störungen. Behandlungsbedürftige psychische Störungen haben mindestens fünf Prozent der Kinder und Jugendlichen."
Dieser Bedarf kann in Österreich derzeit offenbar nicht gedeckt werden, Krankenkassen-Regelungen und Selbstbehalte minimieren den Zugang, so die Expertin: "Die psychotherapeutische Behandlung ist oft kontingentiert. In Wien und einigen Bundesländern ist das Kontingent schon oft im Frühjahr oder im ersten Halbjahr ausgeschöpft. Auf eine Psychotherapie warten sie ein Jahr."
Die oberösterreichische Gebietskrankenkasse (OÖGKK) - Chef war bis zum Antritt seines Amtes als Gesundheitsminister Alois Stöger - werde zwar in der Finanzdiskussion der Krankenkassen als Vorzeige-Beispiel präsentiert, doch die Kehrseite der Medaille laut Eva Mückstein: "Oberösterreich hat den niedrigsten (Kinder-Psychotherapie-)-Versorgungsgrad von 0,1 Prozent." Im benachbarten Deutschland liege er bundesweit bei 2,6 Prozent. Die Expertin über die Situation in Österreich: "Kinder erleben wenig Geborgenheit. Österreich liegt laut OECD auch bei der Diskriminierung von Migranten ganz weit oben." Die Versorgung mit Therapieangeboten müsse kostenlos und ohne soziale und finanzielle Barrieren sein. Wartezeiten und Selbstbehalte würden die Möglichkeiten einschränken.
Dazu der Vizepräsident der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde, Wilhelm Kaulfersch: "Es ist keine Überraschung. Es muss einem wirklich sehr komisch vorkommen, dass gerade in Ländern wie Österreich, Großbritannien und den USA, die sehr viel Geld in die Gesundheit investieren, gerade diese Länder an letzter Stelle (bei der Kinder- und Jugendgesundheit, Anm.) liegen. Es ist besonders Besorgnis erregend, da gerade die Kinder jene sind, die unsere Gesellschaft erhalten werden." Selbst im Mutter-Kind-Pass existierten Lücken: "Da gibt es in Österreich im Vorschulbereich zuwenige Untersuchungen - und dann ist es überhaupt aus. Im Jugendbereich gibt es keine Untersuchungen." In Deutschland wären es wenigstens zwei in dieser Alterskategorie.
Ähnlich dürfte die Situation in der Ergotherapie sein. Marion Hackl vom Bundesverband der Ergotherapeuten: "Die Finanzierung entspricht nicht dem wachsenden Bedarf. Sie wird reduziert. Die Therapien werden von den Krankenkassen in den Privatbereich verschoben. Kinder müssen leider zwei Jahre auf einen (kostenlosen, Anm.) Therapieplatz waren. Eine andere Möglichkeit ist es, die Therapie selbst zu finanzieren - und dann einen Selbstbehalt bis zu 45 Euro zu tragen." Dabei könnten durch rechtzeitige Intervention sonst lebenslang erforderliche Sozial- und Gesundheitskosten verhindert werden.
Gesundheitsminister Alois Stöger hat sich am Donnerstag gegen die scharfe Kritik an der heimischen Kinder- und Jugendgesundheit zu Wehr gesetzt. "Insgesamt haben wir eine gute Versorgung von Kindern und Jugendlichen", hob er am Donnerstag am Rande einer Pressekonferenz in Wien hervor. Nachholbedarf und Verbesserungspotenzial in einzelnen Bereichen, wie im medizinischen Sektor, räumte er aber ein.
Dass Österreich in einzelnen Punkten wie bei Tabak- oder Alkoholkonsum an letzter Stelle stehe, beurteilte er skeptisch: Dabei stelle sich die Frage, was bzw. wer verglichen worden sei, betonte Stöger. "Bezüglich Alkohol und Alkoholmissbrauch gibt es keine Maßnahme, die wir nicht setzen." Manche Supermärkte würden sich sehr darum bemühen, den Verkauf an Jugendliche zu reduzieren. Gegen Alkoholmissbrauch seien vor allem Aufklärungsmaßnahmen und Diskussionen über Lösungsmöglichkeiten wichtig. "Es darf nicht sein, dass Kinder zu ungesunder Ernährung und Genussmitteln kommen", betonte der Minister. Grundsätzlich gibt es laut Stöger zwei bis drei "elementare Probleme": mangelnde Bewegung, der generelle Zugang zum Thema Ernährung und Drucksituationen, denen Kinder und Jugendliche in ihrem Alltag ausgesetzt sind.