Die Zahl der Menschen, die eine blutverdünnende Therapie auf Dauer benötigen, wächst
Bei der Wahl der verwendeten Medikamente sollten Ärzte und Patienten vorsichtig sein, sagte jetzt die Wiener Intensivmedizinerin Sibylle Kozek-Langenecker gegenüber der APA.
Blutgerinnung
"Die Menschen werden immer älter. Damit wird praktisch 'automatisch' auch der Anteil jener höher, welche zum Beispiel an Vorhofflimmern leiden. Das stellt ein hohes Risiko für einen Schlaganfall dar, das man aber durch eine die Blutgerinnung hemmende Therapie um zwei Drittel reduzieren kann", sagte die Intensivmedizinern vom Evangelischen Krankenhaus in Wien.
In Österreich sind rund 120.000 Menschen von Vorhofflimmern betroffen
Bis zum Jahr 2050 soll sich ihre Zahl verdoppeln. In Europa sind rund 15 Millionen Menschen betroffen. Jeder Vierte, der jetzt 40 Jahre alt ist, wird im Laufe seines Lebens Vorhofflimmern entwickeln. Etwa zehn Prozent der mehr als 80-Jährigen leiden an solchen Herzrhythmusstörungen. 35 bis 45 Prozent aller Schlaganfälle sind darauf zurückzuführen, dass ein Thrombus aus dem Herzen über die Halsschlagadern in das Gehirn "schießt".
Komplikation bei Operationen
Gerade bei der Prävention dieser gefährlichen Komplikation kommen seit wenigen Jahren vor allem die neuen oralen Antikoagulanzien zum Einsatz (NOAKs). Sie haben sich als genauso wirksam wie das alte Marcoumar (Vitamin K-Antagonist) erwiesen. Doch bei der Verwendung der neuen Medikamente entfällt die Notwendigkeit einer regelmäßigen Laborkontrolle der Blutgerinnung. Außerdem kommt es zu weniger Blutungskomplikationen.
"Die Vorteile dieser Medikamente sind klar. Deshalb haben sie sich auch weitgehend durchgesetzt", sagte Sibylle Kozek-Langenecker. Doch die Sache habe auch eine Kehrseite. "Wir haben dann im Spital Patienten nach Unfällen, die operiert werden müssen - und sie haben eine blutverdünnende Therapie." Entweder man riskiere schwere Blutungen oder man müsse die Operation verschieben, bis die Wirkung der Medikamente nachgelassen habe.
"Das ist aber schlecht. Es gibt Daten, die ganz klar beweisen, dass das Verschieben einer Operation wegen eines Oberschenkelhalsbruchs über 48 Stunden bereits die Komplikationsrate und die Sterblichkeit erhöht", sagte die Expertin.
Operation bei blutverdünnenden Medikamenten
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Sturzrisiko
Schon das Sturzrisiko beträgt pro Jahr für über 65-Jährige bis zu 40 Prozent. Die Hälfte der Betroffenen benötigt dann eine medizinische Versorgung, zum Beispiel einen akuten chirurgischen Eingriff. Das ist aber unter Blutverdünnung mit einem starken Blutungsrisiko behaftet."Dabei darf man diese Gefährdung nicht als ein Problem ausschließlich von schwer gebrechlichen und hoch betagten Menschen ansehen. Es landete zum Beispiel schon ein 65-Jähriger mit blutverdünnender Behandlung nach einem Paraglider-Unfall auf dem Operationstisch", erzählte die Wiener Intensivmedizinerin Sibylle Kozek-Langenecker. Da ist dann buchstäblich Feuer am Dach, wenn die Betroffenen unter Antikoagulans-Therapie stehen.
Gegenmittel
Es gibt bereits mehrere der neuen NOAK-Medikamente. Allerdings existiert nur bei einem - mit dem Wirkstoff Dabigatran - seit kurzem ein von den Arzneimittelbehörden zugelassenes Gegenmittel (Antidot). Es handelt sich dabei um ein monoklonales Antikörper-Konstrukt (Idarucizumab), das als Infusion verabreicht wird und die Hemmung der Blutgerinnung durch Dabigatran praktisch sofort nach der Verabreichung aufhebt."Das ist wie das Drücken eines Lichtschalters. Gegenmittel zu den anderen bereits erhältlichen NOAKs befinden sich hingegen erst in Entwicklung", sagte die Intensivmedizinerin, die dazu auch über den Österreichischen Herzverband informiert hat. Das Anliegen der Expertin ist es, Patienten und Ärzte darüber aufzuklären, dass man schon bei Wahl der Mittel zur Blutverdünnung vorsichtig sein sollte. Die Verfügbarkeit eines Gegenmittels für den seltenen Akutfall mit der Notwendigkeit einer dringenden Operation sollte berücksichtigt werden, wenn man nicht zwei bis fünf Tage warten kann, bis eben die Wirkung der Mittel nachgelassen hat. Einzurechnen sei auch, dass sich der Wirkspiegel von Dabigatran bei Personen mit Nierenfunktionsstörungen erhöhen könne. Zwar lässt sich die Wirkung von Marcoumar zum Beispiel auch mit Vitamin K und der Gabe und von Gerinnungsfaktor-Konzentraten aufheben, aber das ist oft mit möglichen Komplikationen verbunden, etwa durch die Bildung von Gerinnseln bis hin zu Gefäßverschlüssen, Lungeninfarkt, Schlaganfall.
Im Ernstfall
Laut Sibylle Kozek-Langenecker müsste eigentlich jedes Krankenhaus in Österreich das Dabigatran-Antidot vorrätig halten. "Seit der Zulassung Ende 2015 ist es bereits in etwa 120 von 160 Krankenhäusern verfügbar", sagte sie. Das Mittel sei relativ kostspielig. "Aber die Kosten für die Intensivstation, in welcher ein Operierter mit Blutung länger bleiben muss, sind noch höher", betonte sie. Und noch eine dringende Bitte äußerte die Expertin: "Alle Menschen mit Blutverdünnungs-Therapie sollten immer den entsprechenden Ausweis bei sich tragen." Sonst weiß niemand im Ernstfall, wie es um die Blutgerinnungssituation des Einzelnen stehen könnte.