"Über die Jahre" begleitet arbeitslose Textilarbeiter im Waldviertel.
Man muss sich auf den Film einlassen, auf seine Bedächtigkeit, seine Menschen. Dann wird die Doku "Über die Jahre" von Nikolaus Geyrhalter, die im Februar in der Sektion Panorama der Berlinale Premiere hatte, zum Erlebnis. Und zu einem Blick in die Arbeitswelt einer strukturschwachen Region, einem Ort der Auseinandersetzung mit der Arbeit und ihrem Stellenwert im Leben des Menschen.
Der Film beginnt mit einer langen Totalen auf einen vergilbten Altbau inmitten winterlicher Wälder und Felder: Die Anderl-Textilfabrik in Schrems, ganz im Norden des Waldviertels in Niederösterreich, Grenzland. Drinnen arbeitet noch eine Handvoll Menschen - so als wären sie und ihre Tätigkeit aus der Zeit gefallen: Spinnweben in den Fenstern, Maschinen, die noch aus dem Gründungsjahr 1850 stammen könnten. Die Arbeiter sind im Ablauf einer fast schon musealen Produktion eingespannt, jeder in einem anderen Raum, beschaulich, unkommunikativ, in sich gekehrt. Windeln werden von Hand in Klarsichtfolie verpackt - auf Halde, denn gegen Wegwerfwindeln kommt man nicht mehr an.
Firma zu, Job weg
Wenig später ist Schluss, die Firma muss schließen. Von einem "Bankrotteur als Ehemann" spricht die Frau des Chefs in Gegenwart ihres Gatten. Er hat sein Lebenswerk verloren, die anderen haben keine Arbeit mehr. Der österreichische Filmemacher Nikolaus Geyrhalter hat mit einem halben Dutzend von ihnen in der Textilfabrik gesprochen, und er besucht sie im Abstand von ein paar Jahren auch nachher noch, ein Jahrzehnt lang.
Hart ist es, im Waldviertel wieder Arbeit zu finden. Nicht jedem gelingt es. Die Sekretärin organisiert erst Tupperware-Partys, bevor sie in einer Steinbruchfirma einen Job findet. Sie erscheint als am meisten kämpferisch, auch wenn sie und ihren Mann ein familiärer Schicksalsschlag trifft. Eine andere Kollegin zieht ihre Enkelkinder groß, auch wenn der Sohn Aluminiumbecher aus Abfallbehältern sammeln muss, damit alle finanziell über die Runden kommen.
Harte Joblage
Ein Jüngerer ist ebenfalls im Steinbruch untergekommen, ein weiterer fühlt sich auch in der Arbeitslosigkeit ausgelastet: Versorgung der alten Mutter, Haushalt, Schlagertexte transkribieren und Wurzelstöcke ausgraben. Einer hat nichts gefunden und ist in all der Zeit "grantiger" geworden, wie seine Mutter konstatiert. Ein älterer Kollege hat erst gar nicht mehr auf einen neuerlichen Berufseinstieg spekuliert, sondern hilft in der Familie aus, wo er gebraucht wird, und findet dort seine Erfüllung.
Die Erfüllung, das macht der Film deutlich, ist es, was die wortkargen Menschen aus dem Waldviertel suchen, wenn sie sich nach Arbeit umsehen. Viele Hobbys haben sie nicht, Arbeit ist das Zentrum und Definitionsort ihrer selbst. Jeder richtet sich sein Leben ein. Nur der Firmenchef ist bereits ein paar Jahre nach dem "Aus" gestorben.
Nikolaus Geyrhalter, dem bei der diesjährigen Diagonale (17.-22.3.) eine Personale gewidmet ist, lässt sich Zeit, macht mitunter quälende Pausen im Gespräch, bevor er wieder aus dem Off fragt, setzt lange Schwarzblenden ein. Der Rhythmus in der Schattenlage des Waldviertels ist ein ungehetzter. Die Probleme treten da aber schärfer zutage als im pulsierenden Ballungsraum.
Geyrhalter geht in seinem langen Werk stets der Frage nach, was das Leben ausmacht, ob es die Arbeit ist, ob es sie alleine sein kann - ohne diese Frage zu stellen. Am Ende sind dem Zuseher die Protagonisten, denen allesamt großes Erzählen fremd ist, ans Herz gewachsen. Der Regisseur verzichtet in seiner Dokumentation zudem auf jede Filmmusik, ein gelungenes Wagnis, wenn man erst einmal auf den Rhythmus der Waldviertler Ruhe eingeschwungen ist.
INFO
Über die Jahre
Österreich 2015, 188 Minuten
Regie: Nikolaus Geyrhalter
Kinostort: 20. März 2015
Foto: (c) NGF