Theater an der Wien
"A Harlot's Progress" feierte Premiere
15.10.2013
Komponist Bell verlegte "Sex in the City" vom schillerden N.Y. in das düstere London.
Eine dunkle Abwärtsspirale in die menschlichen Untiefen hat am 13. Oktober im Theater an der Wien ihre umjubelte Zerstörungskraft entfaltet: Für die Uraufführung der neuen Saison, "A Harlot's Progress", hat der junge britische Komponist Iain Bell (33) eine Antwort auf Igor Strawinskis "A Rake's Progress" verfasst, das im September wiederaufgenommen wurde. Er schildert in bestem britischem Operngewand den Abstieg eines Mädchens im London des 18. Jahrhunderts - ein etwas altertümliches Moralstück, das vom Publikum überwiegend begeistert aufgenommen wurde.
Dunkler Abstieg in London
Sex and the City: Auf diese Formel lässt sich "A Harlot's Progress" letztlich reduzieren - jedoch nicht im coolen New Yorker Sinne, sondern im abgründigen, dunklen Gewand des Molochs London. Hier kommt Moll Hackabout (gesungen von der deutschen Starsopranistin Diana Damrau) als Unschuld vom Lande an und sinkt alsbald von der Geliebten eines reichen Gönners über die gehobenere Hure zur Straßenprostituierten ab, bevor sie im Syphiliswahn dahinsiecht und damit ihr Baby an eben jene Kupplerin verliert, die schon ihren Weg ins Verderben geebnet hat.
Altmodisch anmutendes Moralstück
Wie das große Vorbild Strawinski hat sich auch Iain Bell einen Stich von William Hogarth aus 1731 als Vorlage gewählt und daraus gemeinsam mit dem Bestsellerautor Peter Akroyd als Librettodebütant ein fast altmodisch anmutendes Moralstück geschaffen. Ihr Werk ist in derber Sprache letztlich eine Kapitalismusparabel aus der Frühindustrialisierung, ein Brecht'sches Moritat mit sprechenden Namen, jedoch ohne die mildernde Abfederung des Humors und Ausweg. Akroyd hält als großer Kenner Londons die Stadt in seinem Libretto als Moloch stets präsent, als großes Mahlwerk, das neu Heranströmende unwillkürlich verschlingt. Entsprechend karg positionieren Regisseur Jens-Daniel Herzog und sein Bühnenbildner Mathis Neidhardt die Szenerie in einem Bretterverschlag, der im Laufe des Abends durch von der Decke fallende Partikel zunehmend im Unrat erstickt. Die Gesellschaft droht im Dreck unterzugehen. Zugleich wird der anfangs noch weite Raum zusehends verkürzt. Der Raum wird kleiner, analog zu Molls Perspektiven.
Diana Damrau begeisterte
Die Rolle dieser Unglücklichen hat Bell Diana Damrau auf den Leib, oder besser gesagt die Stimme geschrieben. Er treibt Damrau immer wieder ins hohe Register, wo sie ihren vibratoarmen, klaren Sopran ebenso ausspielen kann wie in den steten Ausbrüchen der verletzten Kreatur. Zugleich beweist die 42-Jährige, dass sie eine Rolle mit tiefem Ernst interpretieren kann und dabei keine Angst vor Hässlichkeit hat, wenn sie die an Syphilis dahinsiechende Moll mit Aussatz spielt. Als Gegenstück zur naiven, ihr Unglück immer wieder selbst suchenden Moll und narrative Sympathieträgerin brillierte die junge Irin Tara Erraught, die im Jänner bereits an der Staatsoper als Angelina in Rossinis "La Cenerentola" überzeugte. Mit klarerer Gesangslinie und warmem Mezzo bildete sie in der Rolle der Freundin Kitty auch die Gegenspielerin zum harten Staccato der ebenfalls beeindruckenden Marie McLaughlin als Kupplerin Mother Needham.
Orchester als kommentierendes Pendant
Diesen Charakteren gesellt sich der Chor in zentraler Funktion als Londoner Bevölkerung hinzu, den Bell zu Beginn sich im tiefsten Register aus dem Urgrummeln des Orchester erheben lässt. Das Orchester stellt oftmals wie der Chor ein gewissermaßen kommentierendes Pendant dar. Es stützt die Solisten nicht, sondern nimmt gleichsam ein Parallelposition ein. In Bells Partitur ist das Wirken von Stammvater Benjamin Britten ebenso unverkennbar wie der britische Minimalismus, obgleich der Komponist stellenweise auch nicht den großen, symphonischen Streicherbogen scheut. Eine Stärke des Stücks ist die kurze, stimmige Fassung der einzelnen Szenen, hier den Hogarth-Stichen in ihrer Lakonie folgend. Einzig die Sterbesequenz Molls ist Bell überlang geraten. Man hofft schließlich inständig auf den baldigen Tod der Leidenden. Dessen ungeachtet stand am Ende einhelliger Jubel für das Ensemble und die Regie. Nur Iain Bell musste neben viel Zustimmung auch einige Buhs für sein persönliches Operndebüt einstecken.
Info
"A Harlot's Progress" von Iain Bell nach einem Libretto von Peter Ackroyd im Theater an der Wien, Linke Wienzeile 6, 1060 Wien. Dirigent: Mikko Franck am Pulst der Wiener Symphoniker, Regie: Jens-Daniel Herzog, Bühne: Mathis Neidhardt, Kostüme: Sibylle Gädeke. Mit Diana Damrau (Moll Hackabout), Marie McLaughlin (Mother Needham), Tara Erraught (Kitty), Christopher Gillett (Mister Lovelace), Nathan Gunn (James Dalton) und Nicolas Teste (Coach Driver/Officer/Jailer). Weitere Aufführungen am 16., 18., 21., 24. und 27. Oktober.
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