Das Wiener Staatsballett feierte "Blaubarts Geheimnis" in der Volksoper.
Das Staatsballett hat am Samstagabend in der Wiener Volksoper die zwei großen, ewigen Wahrheiten der Liebesbeziehung verhandelt: Man muss den Partner in seiner Gesamtheit annehmen - und an etwaigen Problemen ist Mama schuld. Stephan Thoss legte mit "Blaubarts Geheimnis" eine Choreografie der Liebe vor, die im Vorjahr in Wiesbaden uraufgeführt und im Anschluss für den "Faust"-Theaterpreis nominiert wurde. Das Publikum zeigte sich vom Metaphernreigen zur Musik von Henryk Gorecki und Philip Glass begeistert, wobei besonders die beiden Solisten Kirill Kourlaev und Alice Firenze mit großem Jubel bedacht wurden.
Als Grundparameter setzt Thoss Elemente, die an Bela Bartoks "Herzog Blaubarts Burg" erinnern: Zwei frisch Verliebte erkunden gemeinsam das Haus des Mannes, wobei hinter jeder Tür eine weitere Episode aus dessen Vergangenheit wartet. Blaubart öffnet sich Judith und offenbart ihr sein Vorleben. Seine Leichen im Keller sind anders als in der Märchenvorlage von Charles Perrault aus dem 17. Jahrhundert nicht reale Mordopfer, sondern die Geister der Vergangenheit, seine Verflossenen.
Durchschreiten die Liebenden die mittels mobiler Tür und zweier Stellwände stets aufs Neue konstruierten Räume, ersteht bisweilen das frühere Paar in der Dopplung wieder auf, mal nur die einstige Geliebte, die mit Blaubart einen letzten Tanz wagt. Es ist der Weg eines Paares in die Erkenntnis des anderen. Die Abstoßung des Gegenübers ist hier stets ein verzweifelter Versuch der Kontaktaufnahme. Das Sich-Würgen geht nahtlos ins Sich-Liebkosen über, die Dichotomie von Ineinanderverkriechen und sich Entweichen wird von Blaubart und Judith durchexerziert.
Selbst das letzte Geheimnis Blaubarts bewältigen die beiden schließlich: Während die Kammern der einstigen Liebesbeziehungen stets von Blaubart geöffnet wurden, schreckt er bei der letzten zurück, die Judith aufstoßen muss. Dahinter verbirgt sich das Damoklesschwert des notorischen Frauenhelds: Die lieblose Mama. Trotz deren Kälte hat sich Sohnemann jedoch nicht zum Norman Bates unter den Muttersöhnchen entwickelt. Bei Thoss ist Blaubart so gutmütig wie Käpt'n Blaubär. Und so steht dem Liebesglück der beiden - zunächst einmal jedenfalls - nichts mehr im Weg.
Thoss setzt diesem zweiten Teil des Abends ein bunteres Präludium voraus. In einem klaustrophobischen, auf die Seite gekippten Raum tanzen Mann-Frau-Paare gleichsam an der Wand den alten Reigen von Anziehung und Abstoßung der Geschlechter. In verschiedenen Konstellationen wird der Schwanengesang des Miteinanders mit dem Sehnsuchtslied der Getrennten kontrastiert, unterbrechen Momente des Erstarrens das verzweifelte Ringen umeinander. Zugleich flicht Thoss hier auch ironische Anspielungen auf Discogrooven und kopuliergymnastische Einlagen in den Tanzfluss ein. Am Ende werden Blaubart und Judith aus dem Kreis der Paare als Protagonisten des zweiten Teils hervorgehen.
Den musikalischen Rahmen bieten Werke von Henryk Gorecki und Philip Glass - Komponisten, die im Wiener Kulturleben zu Unrecht lediglich in der Nische der Tanzbegleitung in den Opernhäusern erklingen. Das Volksopernorchester unter Wolfgang Ott interpretiert die seriellen Strukturen des 2010 verstorbenen Polen Gorecki symphonisch, luftig-leicht. So manche Kante des Widerborstigen wird da geglättet, manch dissonante Stelle melodisch überspielt. Auch das charakteristische Flirren des Minimalisten Glass wird durch einen großen symphonischen Bogen des Repetitiven ersetzt - ungeachtet der einen oder anderen Taktunsicherheit ein spannender Ansatz. Und dafür kann Mama ausnahmeweise mal nichts.
(S E R V I C E - "Blaubarts Geheimnis" an der Volksoper, Währinger Straße 78, 1090 Wien. Choreografie/Bühnenbild/Kostüme: Stephan Thoss, Dirigent: Wolfgang Ott. Mit Kirill Kourlaev (Blaubart), Alice Firenze (Judith), Dagmar Kronberger (Blaubarts Mutter), Andrey Kaydanovskiy (Blaubarts Alter Ego), u.a.. Weitere Aufführungen am 19. Dezember, 17. und 29. Jänner, 1. Februar sowie am 10., 20. und 24. Juni 2013. Karten unter 01/5131513 oder http://www.volksoper.at. http://www.wiener-staatsballett.at)