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Buch Messe: Bücher regieren Wien

21.11.2012

Der Chemiker und Autor Carl Djerassi eröffnet um 19:00 Uhr die "Buch Wien". 

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© Reed Exhibitions Messe Wien
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"Der Autor muss erst sterben, damit dieses Stück hier eine Chance hat." Mit diesem Satz und einem Plakat einer szenischen Lesung seines Stücks "Phallstricke" posiert Carl Djerassi für sein Bild in der derzeit laufenden Ausstellung "Frame" im Wiener Künstlerhaus. Mit der Wiener Theaterszene hat der aus Österreich stammende, 1939 vor den Nazis in die USA geflüchtete Chemiker so seine Probleme. Djerassi, der in den 1950er Jahren mit der ersten synthetischen Variante des Schwangerschaftshormons Progesteron die Grundlage für die Antibabypille entwickelte, hat nach seiner wissenschaftlichen Karriere Mitte der 1980er Jahre ein zweites Leben als Schriftsteller begonnen und seither zahlreiche Romane und Theaterstücke geschrieben und damit weltweiten Erfolg. Doch in Wien fühlt sich der 89-Jährige in dieser Hinsicht nicht angenommen, wie er im Gespräch mit der APA erklärte. Am 21. November  wird Djerassi die 5. Internationale Buchmesse "Buch Wien" eröffnen und sein Verhältnis zu Wien thematisieren.

Hier das Interview mit dem Autor

APA: Als Sie vor rund vier Jahren Wien zu ihrem dritten Wohnsitz neben San Francisco und London gemacht haben, meinten Sie, Ihre Gefühle für Wien würden immer gemischt bleiben. Wie geht es Ihnen damit, dass hier öffentliche antisemitische Beschimpfungen eines Rabbiners oder antisemitische Karikaturen auf Facebook-Seiten von Politikern toleriert werden?

Djerassi: Es ist keine Frage, dass das ein Land ist, wo es noch immer viele antisemitische Leute gibt. Ich treffe aber auch mehr und mehr Leute, die sich umgekehrt benehmen. Und ich konzentriere mich hauptsächlich auf die. Ich bin nicht als alter Mann hergekommen, der seine Kindheit wiederfinden will, sondern um zu sehen, ob man wirklich angenommen wird, und nicht nur als Reparation. Wenn man mir jetzt ein Ehrendoktorat gibt (wie es etwa die Uni Wien im Juni getan hat, Anm.), ist das eine totale Reparation. Denn das Ehrendoktorat für meine wissenschaftlichen Arbeiten habe ich schon vor 30 Jahren verdient.

APA: Haben sie in Wien bisher das Gefühl gehabt, angenommen zu werden?

Djerassi: Auf einer persönlichen Ebene, natürlich ja. Aber wenn ich von Institutionen spreche, teilweise nein. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: die Theaterszene. Ich habe neun Theaterstücke geschrieben, die in ungefähr 20 Sprachen übersetzt sind. Mit Ausnahme des Stadttheater Walfischgasse und des Landestheater Niederösterreich in St. Pölten hat sich keines der Theater hier, denen ich Stücke geschickt habe, interessiert, ja nicht einmal geantwortet. Ich spreche hier von Burg- und Akademietheater, Volkstheater und Josefstadt.

APA: Kann das - in einem Land mit großer Wissenschafts-Skepsis - mit den Themen ihrer Stücke zu tun haben, die sich ja meist um Naturwissenschafter drehen?

Djerassi: Ja natürlich. Die Theater haben pathologische Angst vor Stücken, die irgendetwas mit Naturwissenschaftern oder Naturwissenschaft zu tun haben. Um zu beweisen, dass das nicht so ist, spielen sie alle paar Jahre Dürrenmatts "Die Physiker". Aber sie sagen, das ist ein Thema, das das Wiener Publikum nicht annehmen würde. Das ist natürlich ein Unsinn, wie können die das sagen, wenn sie noch keine solchen Stücke gespielt haben. Ich spreche nicht nur von Carl Djerassi, auch Michael Frayns "Copenhagen", ein Welterfolg, war hier auf keiner großen Bühne noch zu sehen. Was mich so irritiert ist nicht, dass sie es nicht spielen, sondern dass sie nicht einmal reagieren. Das hat mit Annahme zu tun.

APA: Sie haben kürzlich Ihre neue Autobiografie abgeschlossen, die zu Ihrem 90. Geburtstag im Oktober kommenden Jahres erscheinen soll. Die wievielte ist das eigentlich?

Djerassi: Ich habe vorher schon 2,5 geschrieben, eine davon war eine total chemische. Der Haymon-Verlag hat mir vorgeschlagen, etwas zu meinem 90. Geburtstag im kommenden Jahr zu machen, etwa eine Neuauflage meiner Biografie von vor 20 Jahren. Ich sagte, wie wäre es, wenn ich noch eine Autobiografie schreibe, die sich nur mit meinen letzten 20 Jahren beschäftigt. Das sind die 20 Jahre, in denen ich wieder mehr nach Wien gekommen bin, nicht nur geografisch, sondern auch emotional. 80 Prozent sind ganz anders als das, was ich in den früheren Autobiografien geschrieben habe, 20 Prozent sind sehr ähnlich.

APA: Der deutsche Titel des Buchs lautet "Der Schattensammler - Die allerletzte Autobiografie von Carl Djerassi". Üblicherweise wird man von Schatten verfolgt, Sie sammeln sie?

Djerassi: Das ist eine Übersetzung des englischen Titels "Treading on Shadows". Ich trete über Schatten und schaue sie mir an. Das ist keine fröhliche Autobiografie, das ist eine, die sehr kritisch ist. Ich habe die Autobiografie rückwärts geschrieben, fange mit meinem 100. Geburtstag 2023 an und gehe zurück. Es handelt sich aber nicht um eine chronologische Biografie, sondern sie hat zwölf Kapitel, die man auch einzeln lesen kann. "Freitod" zum Beispiel ist ein interessantes und trauriges Kapitel, "Heimat(losigkeit)" heißt ein weiteres, auch im englischen Buch. Ein weiteres Kapitel nennt sich "Jude", es gibt ein Kapitel über die Pille und ein sehr wichtiges über den "Schriftsteller". Da schreibe ich darüber, warum und wieso ich zur Literatur gegangen bin. Ich habe gesehen, dass mein ganzes Schreiben nach der Autobiografie "Die Mutter der Pille" (1991) eigentlich eine Art Autopsychoanalyse war und ist.

APA: Was meinen Sie damit?

Djerassi:
Ich habe angefangen, mich mit Themen zu beschäftigen, die ich eigentlich nicht berühren wollte. Das Judentum ist ein gutes Beispiel. In jedem meiner Romane, und das war nicht absichtlich, ist die männliche Hauptfigur ein Jude. Es gibt viele andere Beispiele in meinen Büchern, wo nicht einmal ich gewusst habe, welche Themen ich da wirklich adressiere. Jetzt verstehe ich, welche das sind, jetzt habe ich den Rosetta-Stein für meine Arbeiten gefunden.Ich habe auch jetzt erst bemerkt, dass in jedem meiner Romane etwas von Wien drinnen steckt. Das hat sich hineingeschmuggelt, das war nicht absichtlich, hat nichts mit dem Thema des Romans zu tun gehabt. Es ist schon interessant, dass ich in einer Stadt, wo die Psychoanalyse erfunden wurde, das Autopsychoanalyse nenne, wo natürlich Freud und alle seine Nachfolger sagen würden, das ist natürlich unmöglich, man braucht einen Psychoanalytiker für eine Analyse.

APA: Sind Ihnen ihre Bücher und Theaterstücke mittlerweile wichtiger als ihre 1.200 wissenschaftlichen Publikationen?

Djerassi: Ja natürlich, das ist mein jetziges Leben. Ich interessiere mich für Sachen, die ich im Moment mache und nicht die ich vor langer Zeit gemacht habe. Deswegen hoffe ich immer, dass es bei Interviews nicht um die Pille geht, das sind Arbeiten, die ich vor 60 Jahren gemacht habe.

(Das Gespräch führte Christian Müller/APA)

Info
Eröffnung der 5. Internationalen Buchmesse "Buch Wien" mit Carl Djerassi, 21. 11. 2012, 19.00 Uhr, Messe Wien, Halle D, ORF-Bühne, Trabrennstraße, 1020 Wien; Carl Djerassi wird am 22. 11., 10.00 Uhr auf der ORF-Bühne über das Buch "Der junge Ovid. Eine unvollendete Biografie" seiner 2007 verstorbenen Frau, der US-Literaturwissenschafterin Diane Middlebrook, sprechen.)


 
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