Auch 2014 konnte das Primavera Festival ein beeindruckendes Line-Up auf die Beine stellen.
Ausweitung stand auch heuer am Programm des Primavera Sound Festivals in Barcelona. Rahmenprogramm galore (Filme, Poster, Platten), die musikalische Erschließung der Stadt (im Park, im Club, im Theatersaal) und das Festival-Gelände selbst. Dank der Umstellung der Bühnen besucht man zwei Festivals in einem. Während die Massen sich im Ping-Pong-System zwischen den beiden gegenüberliegenden Hauptbühnen bewegen, hat sich das „alte“ Gelände angenehm gelüftet. Drei Minuten vor Konzert-Beginn in die erste Reihe? Null Problemo. Und der „neue“ Teil des Geländes hat seinen Ikea-Parkplatz-Charme abgelegt. Win-win-Situation nennt das der Planungswirtschafter.
Musikalische Trends in Indiehausen darf sich jeder selbst rauspicken, bei 180 Acts in 5 Tagen lässt sich genug finden. Die Gartenbaukunst wird hier noch gerne gepflegt. Vielfalt, Ausweitung, ehschonwissen. Auf zu den Bands.
Tag 0
Das Bemühen um sinnvolle Programmierung kann man den Veranstaltern nicht absprechen, der Pre-Eröffnungstag im Barts ein schönes Beispiel. Gesetztere Herrschaften spielen Lärmmusik ohne schalen Todesernst. Die Portugiesen von PAUS gehen mit zwei Front-Schlagzeugern voran, Full Blast klären darüber auf, dass Musik aus der Improvisations-Ecke dynamisch Ende nie sein kann. Bei The Ex folgt der erste Mosh-Pit und Taubheit, Rhythmus ist König hier. Und nach der Primavera-Hausband Shellac weiß man, dass Rock genauso und nicht anders zu funktionieren hat. Kein Gramm Fett.
Tag 1
Den ersten Tag am Hauptgelände konnte man z.B. mit Julian Cope beginnen. Der legendäre Psychedelic-Musiker und Krautrock-Vermittler fühlte sich, im Lederrocker-Outfit und Glitzer-Gitarre, recht nostalgisch. Klassiker bis hin zu The Teardrop Explode waren die Folge. Mit Girl Band folgt dann ein Act ohne elendslange Diskographie im Rücken, ein, zwei Singles stehen zu Buche. Aber was für eine Band! Noiserock, die Bierflasche spielt den Bass, Repetition, eine Haltung die an Pissed Jeans, mit britischem Pop-Denken vermengt, denken lässt. Neutral Milk Hotel heißt die nächste Band im beliebten Indie-Reunion-Zirkus, da wird herzhaft mitgesungen wenn gleich zu Anfang die „Hits“ rausgehauen werden und das Herz ganz warm wenn die Songs vom ersten Album folgen.
Chrome hingegen zwar auch altgedient und legendär, aber auf der obskureren Seite zuhause. Die Musik der Industrial-Vorreiter, die sich auf der Wire-Liste „100 Records That Set the World on Fire (While No One Was Listening) finden lassen, walzt einen noch einmal mit einer Noise-Lawine nieder, bevor man bei Charles Bradley aus ganz anderen Gründen zu Boden geht. Der Soul-Sänger musste sein 60. Lebensjahr überschreiten bevor er „entdeckt“ wurde. Die Stimme, der Hüftschwung, die Energie, die EMOTIONEN! Begleitet von einer Band aus recht weißen, jungen Hipstern, dürfen hier keine Augen trocken bleiben. Eine Naturmacht. Zu Ende geht die Nacht mit Metronomy, Pop, aus dem Schlafzimmer und am Weg ins Stadion. Unterschlagen habe ich Bo Ningen, Acid-Punk, immer schneller wirbeln die Haare bis es den Stromschlag setzt.
Tag 2
Eine der Besonderheiten des Festivals sind die Konzerte im städtischen Parc de la Ciutadella. Öffentlich und frei zugänglich spielen Acts Zusatz-Konzert auf beschaulichen Bühnen im Grünen. Ein Dankeschön an die Bewohner dieser Stadt und eine dankbare Möglichkeit schmerzhaften Überschneidungen im Hauptprogramm zu entgehen. La Sera um Ex-Vivian Girl Katy Goodman zeigt vor familiärer Kulisse, dass die neue Platte Abgründe kennt und das Sonnige sich gern auch mal angepisst zeigen darf.
Am Hauptgelände geht es mit den Natur-Verweisen weiter, eine Beschwörung der Donnergötter wird von Yamantaka / Sonic Titan aufgeführt während der pecherne Himmel doch immer Raum für gewaltige Blitze zeigt. Wie bestellt für diese japanische Experimental-Rock-Oper inklusive Fächer-Waffen. Wie bestellt platzen dann auch zum letzten Donnerschlag auf der Bühne die ersten Regentropfen vom Himmel. Blöd für die Drive-By Truckers. Zumindest bis kurz vor Schluss die Sonne rauskommt und ein (doppelter) Regenbogen hinter der Bühne für Kitsch sorgt. So ist der Südstaaten-Rock. Mit Loop werden dann die Gitarren-Drones gestapelt, heißgeliebt in gewissen Kreisen, gibt es von den Cousins der Spacemen 3 laute Kost.
Sinnvolle Programmierung wurde ja schon mal erwähnt, die nächsten Stunden sind ein gutes Beispiel, man wähnt sich im Stadion. The Twilight Sad haben ihre früheren Noise-Wände ein wenig gezähmt um den Bombast willkommen zu heißen. Wer sich aber so herzlich überwältigt von allem zeigt, kann kein schlechter sein. Bei The War On Drugs wähnt man sich atmosphärisch bei Dire Straits zuhause, nur wirkt trotz Überlänge und Keyboard-Flächen nichts aufgeblasen und schal. Ein Parallel-Universum des Achtziger-Rocks, wo plötzlich alles gut ist. Mehr Dirigent als Sänger, ich mein Grunzer, ist der Frontman von Deafheaven. Dream Pop als weltumarmender Death Metal gespielt, es darf einem schaurig-warm werden im Körper. Kvelertak geben sich dann als Rock-Armee, ENERGIE PUR. Wie alle denkbaren härteren Rock-Spielarten in einem einzigen Song untergebracht werden lässt Vergleichbares alt ausschauen. Da fliegen Gitarren durch die Lüfte während ausgestopfte Eulen als Kopfschmuck herhalten. In Madchester zuhause sind hingegen Jagwar Ma, Rave Pop, das große Glücksgefühl für die bewegte Masse, ein bisschen mehr Punch und weniger Ausdehnung wäre wünschenswert gewesen. Um 4 Uhr früh geht es dann endlich aus dem Stadion raus und rüber in die, tja, wohin? Zu Wolf Eyes halt. Minimal Noise ohne Gitarren oder Schlagzeug, dafür mit Masken, viel Nebel, komischen Drehknöpfen am Gürtel. Keine Ahnung wieso, aber das funktioniert. Auch wenn nur ein Grüppchen dieser Meinung ist. Der Rest tanzt in den Morgen zu Pional.
Tag 3
Man startet am Samstag im deutlich besser befüllten Park zu Speedy Ortiz. Alternative Rock, der vor 20 Jahren auf MTV zuhause war, eh nett. Die nächste Möglichkeit für Tränen bot sich dann bei Television mit ihrer Aufführung von „Marquee Moon“. Und was soll man sagen, die gealterte Stimme von Tom Verlaine, es darf ruhig wie ein Wasserfall strömen. Allein das schon berührend wie Johnny Cashs Alterswerk, da hätte es ihr Meisterwerk gar nicht gebraucht. Spoon haben mit ihren Jahren ganz brav Hits angesammelt, Rock der auf den Tanzböden funktioniert, Coolness die einfach da ist. Cloud Nothings sind sich für nichts zu uncool, Indie Punk is Dead, las man mal in einem Nirvana-Video. Denkste. Da wird angeklagt und geschrieben, gekracht und geschrammelt und wir sind für immer jung. Und dann kommt Ty Segall. Nicht einmal Thee Oh Sees hatten in den letzten Jahren einen so gewaltigen Output wie Segall. Und er weiß ihn zu präsentieren, Garage Rock is King (und hey, Primavera, wenn Mikal Cronin schont Bass spielt bei Ty Segall, lasst ihn das nächste Mal auch eine Einzel-Show spielen). Danach 50 Minuten Spaß mit den Black Lips, die tatsächlich ein klein wenig freundlicher und sanfter, ich möchte gar sagen souliger, geworden sind. Passt schon. Genauso wie Cut Copy. Was bei Jagwar Ma Rave war, ist hier Elektro. Und der Punch ist auch da. Die letzte Euphorie wird dann wie jedes Jahr in der Indie-Disco bei DJ Coco aufgebraucht. Don’t stop believin!
Tag 4
Zum Glück gibt es ja noch den Sonntag als Post-Festival-Tag. Wieder mit Konzerten im Park, dieses Mal vor Massen. Mit nettem Indie-Pop von Hospitality, doch überraschend Wildes von Mark Eitzel, psychedelischer Garage von den Boogarins und die Verwechslung von Lustlosigkeit mit Coolness durch die Dum Dum Girls (vielleicht lag es aber auch an der fehlenden Lautstärke). Völlig fertig und erledigt, körperlich und geistig, gibt einem Ty Segall in der Nacht im Club Apollo dann den Rest. Wenn das möglich ist, war die zweite Show noch intensiver, noch schneller, noch genialer als die erste. Andere Setlist, wirbelnde Körperteile im Publikum, wie oft ist allein der Typ von Speedy Ortiz von der Bühne gesprungen? Am Ende drückt Ty Segall einem Typen aus dem Publikum die Gitarre in die Hand und springt mit Anlauf in das selbige, der Auftakt zur schönsten Stage Invasion aller Zeiten.
Danke Primavera, hallo Depression.
Autor: Christian Prügger