Heimat Österreich. Als Kind wurde er bespuckt, nun provoziert er mit einem Buch.
Jahrelang will er Alltagsrassismus erlebt und ertragen haben. Auf der Straße soll er mehrmals wegen seiner Herkunft beschimpft und angespuckt worden sein. Ein Mann riet ihm sogar, „endlich dorthin zurückzugehen, wo er herkommt“. In einige Clubs kommt er auch heute nicht hinein, „weil schon zu viele von euch drin sind“.
Wut Dabei lebt Inan Türkmen seit 25 Jahren in Österreich. Er ist in Linz geboren und aufgewachsen, aber ein richtiger Österreicher ist er für viele noch immer nicht. Jetzt platzte dem Wirtschaftsstudenten der Kragen: „Man versteht einfach nicht, wie sich die Menschen verhalten. Man denkt sich: Ich bin ja eh einer von euch, warum behandelt ihr mich anders? Und dann entwickelt sich Wut.“
Aus dieser Wut heraus hat Türkmen nun ein Buch geschrieben. Über Nacht wurde Wir kommen (edition a, 14,90 Euro) zum meistdiskutierten Buch Österreichs. Sein Verlag bewarb ihn als den „Anti-Sarrazin“ („Da habe ich gar nichts dagegen.“), und ebenso wie der ehemalige Chef der Deutschen Bundesbank polarisiert auch Türkmen. Allerdings: Er kommt zu einem ganz anderen Ergebnis als Thilo Sarrazin. Wirtschaft boomt. Denn die Türken seien kein Problem für Europa, sondern in Wahrheit „sogar die Europäer von morgen“. „Während die Wirtschaft vieler Länder gerade so an der Rezession vorbeischrammt, wird die Türkei auch in den kommenden Jahren weiter wachsen.“
Hungrige Türken Aber nicht nur das: Im Schnitt seien die Türken zehn Jahre jünger als die Österreicher, ihre Politik und ihre Gesellschaft dadurch nicht so verstaubt und träge. Und: „Wir sind ein Volk, das anpackt, Türken der zweiten Generation, zu der auch ich gehöre, sind besonders hungrig.“
Der 25-Jährige weiß: Er provoziert. Aber „wer nicht provoziert, wird nicht gehört“. Und das will er werden. Um endlich mit alten Vorurteilen aufzuräumen.
"Leggings sind schlimmer als ein Kopftuch"
ÖSTERREICH: Mit „Wir kommen“ sorgen Sie derzeit für riesigen Wirbel. Warum haben Sie das Buch geschrieben? Inan Türkmen: Meine Eltern sind in den 1980er-Jahren von der Türkei nach Österreich ausgewandert. Ich bin 1986 in Linz geboren, bin dort aufgewachsen und zur Schule gegangen, aber trotzdem bin ich immer anders behandelt worden. Zwar fühle ich mich als Österreicher, aber ich hatte immer mit Vorurteilen, Alltagsrassismus und Diskriminierung zu kämpfen. ÖSTERREICH: Sie wollen also abrechnen? Türkmen: Es gab immer wieder Vorfälle in meinem Leben, die ich nicht verstanden habe. Ich wurde mehrfach auf der Straße angespuckt und angepöbelt, nur weil ich anders aussehe. In Deutschland oder in England ist mir so etwas noch nie passiert. Aus dieser Situation hat sich in mir eine Wut entwickelt, und es kommt nun darauf an, was man mit dieser Wut macht. Ich habe sie mir von der Seele geschrieben.
ÖSTERREICH: Sind Türken in Österreich stärker von Anfeindungen betroffen als andere Migranten? Türkmen: Absolut, sie sind das Feindbild Nummer eins. Sie sind die Migranten, die in Österreich am wenigsten geschätzt werden. Das sagen Umfragen und Statistiken ganz klar. Schon in der Schule werden die Kinder auf das Feindbild Türke eingestimmt. Und dabei erleben wir ja derzeit eigentlich die dritte Türkenbelagerung Wiens.
ÖSTERREICH: Wir erleben derzeit eine Türkenbelagerung? Türkmen: Ich meine das so: Dass die Eröffnungschoreografie des Wiener Opernballs ein Türke macht, war vor fünf Jahren noch undenkbar. Einer der erfolgreichsten Geschäftsmänner Österreichs, Attila Dogudan, ist Türke. Das sind jetzt nur zwei Beispiele für die derzeitige „positive“ Türkenbelagerung in Österreich.
ÖSTERREICH: Und wenn es nach Ihrem Buch geht, wird der Einfluss der Türken weiter zunehmen. Türkmen: Man muss sich bewusst sein, dass die Türkei eine riesige Nation aus vielen jungen, aufstrebenden Menschen ist. Und alle versuchen, die Wirtschaft voranzutreiben. Die Türken sind jünger, hungriger, die türkische Wirtschaft wächst schneller. Neun Prozent Wachstum gab es allein im Jahr 2010. Wir haben deutlich mehr Frauen in den obersten Chefetagen und sind im Schnitt zehn Jahre jünger als die Österreicher. Österreich ist ein Staat in der Midlife-Crisis, die Türkei eine boomende Wirtschaft. Und irgendwann werden die Türken keine Lust mehr auf Europa haben. Die Türkei ist in ihrer jetzigen Situation weder auf Deutschland noch auf die EU angewiesen.
ÖSTERREICH: Sie sprechen einen möglichen EU-Beitritt der Türkei an. Der Türkei würde er also nichts bringen? Türkmen: Die Türkei würde die EU auf jeden Fall menschlich brauchen. Ohne Frage gibt es dort immer noch Probleme mit den Menschenrechten, mit der Pressefreiheit. Dinge, die in Österreich schon längst Standard sind. Da sollte die EU eingreifen und versuchen, diese Sachen zu lösen. Denn die Türkei ist ein sehr wichtiger Partner für Europa.
ÖSTERREICH: Wie stehen Sie zur Kopftuchdebatte? Sind Sie dafür oder dagegen? Türkmen: Ich kann diese Diskussion nicht verstehen. Ich meine: Wenn eine Dame Leggings trägt, darüber ein Top und ihr Gesäß wird nicht verdeckt – dann ist das nicht nur für einige Frauen unvorteilhaft. Dann stört mich das sogar mehr, als wenn eine Frau ein Kopftuch trägt.
ÖSTERREICH: Eine Leggings ist schlimmer als ein Kopftuch? Ist das Ihr Ernst? Türkmen: Wenn eine Frau sich dazu entscheidet, ein Kopftuch zu tragen, dann haben wir nicht das Recht, sie zu verurteilen. Es ist natürlich etwas weit entfernt, aber: Fahren Sie mal in ländliche österreichische Regionen, da trägt auch jede ältere Frau ein Kopftuch. Sie kennen es auch so.
ÖSTERREICH: Mit solchen Aussagen sorgen Sie natürlich für mächtigen Wirbel. Machen Sie das bewusst? Türkmen: Man muss einfach provozieren, um gehört zu werden. Es müssen noch sehr viele Sachen radikal angesprochen werden, aber radikal positiv. Negativ ist die Provokation seit Jahren erfolgreich, aber es kann nicht sein, dass wir uns gegenseitig aufhetzen und die Rechtspopulisten so stark machen. Nächstes Jahr sind Wahlen, und wir sollten gemeinsam versuchen, eine Katastrophe abzuwenden.
ÖSTERREICH: In Ihrem Buch schreiben Sie: 47 Prozent der deutschen Türken wollen früher oder später zurück in die Heimat. In Österreich ist es ähnlich. Was wollen Sie? Türkmen: Ich habe auch schon oft darüber nachgedacht. Aber ich bin hier verankert, meine Familie ist hier, der Großteil meiner Freunde. Ich fühle mich wohl in der Türkei, aber ich fühle mich auch als Österreicher. Ich werde versuchen, mir in Österreich etwas aufzubauen und mit ein paar Klischees und Vorurteilen aufzuräumen.
ÖSTERREICH: Und wie geht es jetzt für Sie persönlich weiter? Türkmen: Ich werde jetzt wieder ein Semester studieren, sonst schimpft meine Mama (lacht). Aber im Ernst: Ich hoffe, dass ich mit meinem Buch etwas bewegen kann. Und vielleicht schreibe ich dann ja noch ein zweites. Dana Müllejans
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