Viel Applaus für schlanken Theaterabend inzeniert von Simon Stone.
Nicht selten werden in Kritiken zu Inszenierungen von Henrik Ibsens "Wildente" Adjektive wie "lahm", "lang" oder "verstaubt" bemüht. Das wird dem Wiener Festwochen-Gastspiel "The Wild Duck" mit Sicherheit nicht widerfahren. Der 28-jährige australische Autor und Regisseur Simon Stone hat das Original lediglich als Basis für seine eigene Deutung individueller Lebenslügen herangezogen und jeglichen Ballast abgeworfen. Kurz: Stone hat "die Gesellschaft" gestrichen. Jenes soziale Umfeld, das im Original aus dem Jahr 1884 Rahmen sowie Projektionsfläche für Einzelschicksale bildete. Der nur 80 Minuten kurze Abend, der am 18. Mai in der Halle G im Museumsquartier seine Premiere im deutschsprachigen Raum feierte, wurde vom Publikum mit langem Beifall gewürdigt.
Verstecktes zum Vorschein gebracht
Manches wird nur sichtbar, wenn es auch gesehen werden soll. Dieses Motto verfolgt das Bühnenbild von Ralph Myers, das nach zwei Seiten hin verglast ist. Während das Publikum auf den Beginn des Stücks wartet, sieht es ausschließlich sich selbst im Spiegel. Ein unaufgeregter, dezenter Schachzug, der Simon Stones Theaterzugang auf den Punkt bringt. "Meine Stücke handeln von Menschen und ihrer Beziehung zueinander und der Beziehung der Zuschauer zu ihrer eigenen Vergangenheit und ihrer Beziehung zu dem Stück, in dem sie sich selbst erkennen", sagte der Australier vorab im Gespräch mit der APA.
Transparenz im Fokus
Sobald im Glaskubus jedoch das Licht angeht, bleibt keine Regung unbeobachtet. Frei von Kulissen, die das Geschehen sozial oder zeitlich verorten würden, stehen allein die hervorragenden Darsteller und ihre von Stone präzise gesetzten Worte im Zentrum, die via Lautsprecher in den Saal übertragen werden. Und so schafft der Regisseur bewusst eine vierte Wand, die jegliche physische Entsprechung weit hinter sich gelassen hat. Der Zuschauer hat zuzuschauen. Wie unter einem Vergrößerungsglas seziert Stone das zentrale Motiv der "Wildente" - die Lüge.
130 Jahre alte Stück ganz modern
Es ist - 130 Jahre nach der Uraufführung - nicht mehr die soziale Lüge, um die es hier geht, sondern die individuelle. Niemand - so die Deutung - ist mehr gezwungen, aus Angst vor gesellschaftlicher Ächtung zu lügen. Ebenso ist das obsessive Streben nach Wahrheit, das Ibsen damals mithilfe der "Wildente" kritisch hinterfragte, nicht mehr zeitgemäß. Also hat es in Stones Textfassung auch nichts mehr verloren. Übrig geblieben sind sechs Menschen, die eigentlich nur eins wollen: glücklich sein. Dass diese Figuren kaum aufgebaut werden, zentrale Wendungen hinter den Kulissen stattfinden und die kurzen, von Blacks unterbrochenen Szenen oft mittendrin abbrechen, unterstreicht die Übertragbarkeit des Schicksals der Protagonisten auf jeden beliebigen Zuschauer.
Familien-Wirrwarr
Weil der naive Gregers Werle (Damon Herriman), der mit Ende 30 von Liebe keine Ahnung hat, den Verdacht hegt, sein Vater könnte eine außereheliche Beziehung zu einer ehemaligen Hausangestellten Gina (Blazey Best) gehabt haben und dies nun zu vertuschen suchen, spricht er Ginas nunmehrigen Ehemann Hjalmar Ekdal (Brendan Cowell) einfach darauf an. Dies tut er nicht, wie bei Ibsen, mit dem Ideal vom besseren Leben in Wahrheit, sondern aus Ärger über den eigenen Vater, der durch seine Affäre Schuld am Selbstmord der Mutter trägt.
Zeitloses Stück bei den Festwochen
Die weiteren Geschehnisse hat Simon Stone im Kern beibehalten. Sie kommen dank der intensiven, jedoch niemals übertriebenen Darstellung der Schauspieler in ihrer Zeitlosigkeit stark zur Geltung und lösen im Zuschauer tiefes Unbehagen aus: Die Lebenslüge des Ehepaars Hjalmar und Gina fliegt auf, die 15-jährige gemeinsame Tochter, die eben nicht die gemeinsame Tochter ist, begeht aus Liebe zu ihrem vermeintlichen Vater Selbstmord. Und die Wildente? Die watschelt im Kubus der Halle G herum, wird herumgetragen und gebadet. Fehlen würde sie nicht. Aber dann müsste man - als letzte Konsequenz dieser Radikalkur - auch den Titel streichen.
Info
"The Wild Duck" nach "Die Wildente" von Henrik Ibsen. Von Simon Stone und Chris Ryan. Halle G, Museumsquartier; weitere Vorstellungen täglich bis 21. Mai, jeweils 20.30 Uhr. www.festwochen.at.