Ivo widmet sich dem Körper als Gefängnis aus Fleisch und als Spielzeug der Freiheit.
Ein Frühlingsopfer in einer Gesellschaft, in der "Opfer" zum Schimpfwort geworden ist: Ismael Ivo hat sich beim Wiener ImPulsTanz-Festival zum 100. Geburtstag Igor Strawinskis legendärem Werk "Le Sacre du Printemps" genähert - respektive sich von ihm entfernt. Unter dem Titel "No Sacre" präsentierte der Festival-Doyen mit seiner Studententruppe "Grupo Biblioteca do Corpo" einen einstündigen Kampf der Körper, eine Transponierung des archaischen Rituals ins Heute. Am Ende fanden vor dem begeisterten Publikum Sinnlichkeit und Gewalt ihren gleichberechtigten Platz.
Newcomer auf der Bühne
Ivo hat für sein pädagogisches Projekt 24 junge Tänzer auf eine intensive Reise durch den heutigen Tanz geschickt, der beim ImPulsTanz wie unter dem Brennglas zu bewundern ist. Die Teilnehmer nahmen zunächst an Workshops teil, besuchten die Veranstaltungen und erarbeiteten dann in den vergangenen 14 Tagen ihr eigenes Stück. "Es ist eine Studie, keine Neuinterpretation von 'Sacre du printemps'", hatte ihr Mentor Ivo im Vorfeld unterstrichen. Das Resultat ist ein eigenständiges Werk, das auf dem übermächtigen Urgrund fußt, aber kein symbolischer Opfergang zu Ehren des schier entrückten Ahnen des modernen Tanzes. So bildet auch gar nicht Strawinskis Musik den Auftakt, sondern die Stücke des deutschen Komponisten Andreas Bick, der Geräusche von Eisschollen, Lava oder Insekten in Panik zu einem Amalgam der Bedrohung verschmilzt.
Honig als Schmiermittel
In dieser Phase dominiert aufseiten der Tänzer die Introspektion, die mikromuskuläre Zurschaustellung des eigenen Körpers, das von einem eher banalen Mann-Frau-Duett samt symbolbeladenem Honig als Schmiermittel eingeleitet wird. Hernach changieren die Akteure zwischen Artistik, Gymnastik und Spastik und dann wieder zartem gegenseitigem Erfühlen. Sobald sich jedoch Strawinskis percussiongetriebene Klänge erheben, wandelt sich die Szenerie. Für die verbleibende halbe Stunde wird es Rosen von der Decke regnen - ein romantischer Code, der allerdings durch das Wechselspiel von Anziehung und Abstoßung der Männer- und Frauengruppe, das nur selten in Richtung der Annäherung umschlägt, konterkariert wird. Sinnlichkeit hat hier zugleich ebenso ihren Platz wie Aggression - ein Ansatz, in dem man dem historischen Vorbild durchaus treu bleibt.
Vrotischen Pas de deux zum Einzelkäpfer
Allerdings belässt es Ivo nicht beim multiplizierten, erotischen Pas de deux, sondern lässt seine Tänzer als Einzelkämpfer immer wieder auch den Fokus auf sich selbst richten. Das eigene Körpermaterial wird ebenso zum Feind wie das des Anderen. Der Körper stellt hier ebenso das Gefängnis aus Fleisch wie das Spielzeug der Freiheit dar. Nach den insgesamt sechs Aufführungen von "No Sacre" in Wien geht es für die Truppe nun bald weiter gen Westen. Bei einer Gastspiel-Tournee wird das Stück seinen Opfergang durch Brasilien antreten.
Info
"No Sacre" von Ismael Ivo und der Grupo Biblioteca do Corpo im Odeon, Taborstraße 10, 1020 Wien am 9., 10. und 11. August. www.impulstanz.com