"Jede_Frau": Agota Lavoyer erklärt in ihrem neuen Buch das System der sexualisierten Gewalt.
Dieses Buch tut beim Lesen wirklich weh, weil es uns dort erwischt, wo es unangenehm ist: bei unseren gedankenlosen Gewohnheiten, die "eh nicht bös gemeint" sind. Die Schweizerin Agota Lavoyer ist Expertin für sexualisierte Gewalt und Bestsellerautorin und will uns mit Jede_ Frau (der Unterstrich wird hier gewählt, um alle Frauenidentitäten mitzumeinen) vor Augen führen, wie sehr unsere Gesellschaft sexualisierte Gewalt verharmlost und normalisiert.
Mareike Fallwickl: "Uns Frauen wird mit großer Absicht nicht geholfen"
Umfassende Beispiele für Gewalt
Fragwürdig. Das reicht von fragwürdigen FlirtTipps in Frauenzeitschriften über alte Sprichwörter à la "Liebe tut weh" bis hin zur Verharmlosung von möglichen Straftaten, wenn es um Lieblingskünstler geht.
Sachlich. Das spannende und wichtige an diesem Buch: Lavoyer schreibt nicht nur sachlich, dort wo es nötig ist, sondern hat ganz umfassend recherchiert. Ihr geht es nicht um einen Fingerzeig, eine Verteufelung, sondern darum, Strukturen aufzuzeigen:
Dass es bei sexualisierter Gewalt selten um Sex wirklich geht, nicht darum, was eine Frau anhat, wie spät sie unterwegs war. Sondern darum, dass wir in einer Gesellschaft leben, die die sogenannte "Rape Culture" aktiv unterstützt. Wer Zweifel hat, kann Frauen nach ihren Eindrücken fragen. Denn jede Frau hat traurigerweise etwas zu dem Thema zu sagen.
»Der Fall Teichtmeister ist kein isolierter, unglücklicher Einzelfall«
Die bekannte schweizer Expertin Agota Lavoyer im oe24-Talk
oe24: Ist die größte Gemeinsamkeit aller Frauen, dass sie im Laufe ihrer Leben sexualisierte Gewalt erfahren? Und warum können wir als Gesellschaft sie nicht schützen?
Agota Lavoyer: Ja, und die größte Gefahr für Frauen weltweit sind Männer. Die Frage ist nicht, ob eine Frau mal sexualisierte Gewalt erfährt, sondern bloss wann und von wem. Wir schützen sie nicht, weil wir uns nicht auf die Ursache des Problems konzentrieren: die tief verankerte Frauenfeindlichkeit, die zu Männergewalt führt.
oe24: Teichtmeister, Lindemann und Co – wieso glaubt die Gesellschaft oft lieber Tätern bzw Beschuldigten als den Opfern?
Agota Lavoyer: Ein Merkmal einer patriarchalen Gesellschaft ist der Zusammenhalt von Männern untereinander. Männer leben in komplizenhaften Männerbünden und ziehen einander nicht in die Verantwortung. Als Gegenleistung gibt es Macht und Privilegien. Das Bild, dass Frauen über sexualisierte Gewalt lügen würden, ist nicht nur irrational, sondern erwiesenermassen falsch und zutiefst frauenverachtend und eine der stärksten Waffen des Patriarchats.
oe24: Wieso überfordert uns sexualisierte Gewalt, wie in dem guten Beispiel mit dem Haus ersichtlich ist?
Agota Lavoyer Viele Menschen weisen das Thema immer noch weit von sich. Für Frauen, non-binäre und trans Personen kann es zu schmerzhaft sein sich damit auseinanderzusetzen, dass ihre sexuelle Unversehrtheit in unserer Gesellschaft nicht so viel zählt. Cis Männer hingegen weisen das Thema von sich, weil sie sich nicht mit ihrem eigenen Fehlverhalten und das ihrer Kumpels auseinandersetzen wollen. Um diese Abwehr und womöglich auch Überforderung zu überwinden, muss sexualisierte Gewalt strukturell angegangen werden: Geschlechterstereotype müssen aufgebrochen werden, es braucht Sensibilisierung und Aufklärung, mehr Ressourcen für die Opferhilfe wie auch für die Täterarbeit und schliesslich ein Sexualstrafrecht, das Betroffenen sexualisierter Gewalt gerecht wird.
oe24: Der Fall Teichtmeister hat uns in Österreich sehr beschäftigt, wie sie sich vorstellen können. Da geht es gleich um zwei massive Dinge: Um Kinder als Opfer und noch dazu um eine unvorstellbare Menge an Daten – wieso erschüttert das nicht das ganze System?
Agota Lavoyer: Weil wieder so getan wird, als handle es sich bei Teichtmeister um einen isolierten, unglücklichen Einzelfall, ein Zufallsdelikt. Das weit weg ist vom eigenen Leben. Dabei wird ignoriert, dass das riesige Ausmass sexualisierter Gewalt, auch an Kindern, nicht ein bedauernswertes aber nicht verhinderbares Übel sind, sondern System haben. Unsere Kultur, in der sexualisierte Gewalt immer noch verharmlost wird, ist veränderbar. Ich glaube, das ist die positivste Nachricht, die ich in meinem Buch vermitteln kann.
oe24: Sie bringen immer wieder – meist entsetzliche – Beispiele, wie in Medien Gewalt an Frauen relativiert, schöngeredet wird. Wie sollen Medien über sexualisierte Gewalt besser berichten?Agota Lavoyer: Erstens: Benutzt keine verharmlosenden Umschreibungen wie Sex-Täter oder Orgie – wenn ihr eigentlich Vergewaltiger und Gruppenvergewaltigung meint. Zweitens: Übernehmt nicht die Täterperspektive. Wenn ihr schreibt, er habe vergewaltigt, „weil er eifersüchtig war“, übernehmt ihr die Denkweise des Täters und impliziert zudem, dass die Gewalt hätte verhindert werden können, wenn sich das Opfer anders verhalten hätte. Die Ursachen für sexualisierte Gewalt liegen nicht in der Eifersucht, sondern etwa in frauenfeindlichen, patriarchalen Besitzansprüchen. Drittens: Lasst Betroffene zu Wort kommen. Viertens: Stellt sexualisierte Gewalt nie als Einzelfälle dar, sondern weist immer auf das strukturelle Ausmass und die Ursachen hin. Und schliesslich fünftens: Bitte schliesst die Kommentarspalten. Oder löscht konsequent alle sexistischen, frauenfeindlichen, opferabwertenden, täterentlastenden, gewaltverharmlosenden Kommentare.