Tsangari setzte bei ihrem Theaterdebüt auf coole Oberfläche ohne Tiefe.
Eine Filmregisseurin inszeniert in einer Kunstinstallation - das muss noch lange keine große Theaterarbeit ergeben. Frank Wedekinds heißblütige, pulsierende, verführerische "Lulu" lässt als letzte Schauspielproduktion der diesjährigen Salzburger Festspiele jedenfalls erstaunlich kalt. Für Athina Rachel Tsangari gab es dafür am Donnerstag bei ihrem Theaterdebüt auf der Perner-Insel einige Buhs.
Trilemma
"Lulu ist Begehren, Horror, Gier, Sittenlosigkeit, Verletzbarkeit, Widerstandskraft, Freiheit, Zerstörung. Sie ist alles und nichts", hat Tsangari im Vorfeld ihren Ansatz der Verdreifachung der Titelfigur erläutert: "So wie ein GPS drei Punkte benötigt, um einen Ort zu bestimmen, erstellen die drei Lulus eine Vermessung jener Männer, die sie aufspießt, zerlegt, wiederbelebt und verwandelt." Die Männer bleiben jedoch unvermessen, die Frauen ebenso rätselhaft wie Tsangaris Konzept, das vor allem am Schauspielerischen scheitert. Die Männer sind Waschlappen und Hampelmänner und werden vom Lulu-Trio mangels Faszination und Ausstrahlung ins Trilemma gestürzt: Es gibt no Sex, no Drugs, no Rock 'n' Roll. Und auch nicht den ganzen Text der "Monstretragödie", die auf zwei pausenlose Stunden runtergekürzt ist.
Atmosphäre
Dabei besitzt die Aufführung durchaus Ästhetik und Atmosphäre. Florian Lösche hat einen Raum gebaut, der in jedem Museum als Gemeinschaftsausstellung von Ernesto Neto und Pipilotti Rist durchgehen könnte. Zahlreiche große, von der Decke hängende ballonartige graue Kugeln werden immer wieder auf- und abgefahren, dienen so als Licht-Regulatoren und werden vor allem in den mit cooler Musik (Mauricio Pauly) unterlegten Aktpausen als Projektionsfläche für Augen, Gesichter oder Namen genutzt. Der Boden bietet eine Vielzahl von versteckten Auftritten und Abgängen. Auch die Kostüme von Beatrix von Pilgrim haben in ihrer Übertreibungskunst zwischen violettem Fatsuit und rosa Flausch-Kokons Witz. Mit "Lulu" scheint das Ganze allerdings herzlich wenig zu tun zu haben.
Es beginnt mit dem von Raubtiergeräuschen unterstützten Auftritt eines 12-beinigen, käferartigen Tiers, aus dessen Chiffonpanzer sich die drei Lulus (Anna Drexler, Isolda Dychauk und Ariane Labed) schälen, und endet mit dem schmatzenden, vampirhaften Mord Jacks (Labed) an Lulu (Drexler). Doch dazwischen gibt es erstaunlich wenig Animalisches. Dass die Männer angesichts dieser Frau reihum den Verstand verlieren, ist reine Behauptung. Die immer wieder chorisch gesprochene Lulu ist bloß vielgesichtig, doch nicht vielschichtig. Rainer Bock als Dr. Goll und Schigolch, Steven Scharf als Franz Schöning und Benny Claessens als Rodrigo Quast retten sich vorzugsweise in grelle Überzeichnung, der kurzfristig eingesprungene Maik Solbach bleibt dagegen als Maler farb- und konturlos.
Tiefe
Einzig Christian Friedel als Alwa und Fritzi Haberlandt als Gräfin Geschwitz zeigen, was diesem insgesamt enttäuschenden Abend am meisten abgeht: dieser "Lulu" nicht nur eine coole Oberfläche, sondern auch eine menschliche Tiefe zu geben. Sie deuten jene Zerrissenheiten und Spannungen an, die doch die unglaubliche Modernität und anarchische Qualität des Stücks (gespielt wird die Urfassung von 1894) ausmachen. Die "Lulu" bleibt ein ungelöstes Geheimnis. Mehr denn je.