Hosengriff ist aber für den Sänger Manson Pflichtprogramm.
Marilyn Manson aus zehn Metern Entfernung zu sehen, ohne fürchten zu müssen, den Abend im Krankenhaus zu beschließen, das war vor einigen Jahren undenkbar. Am Mittwoch Abend, 24.6., war das Gefahrenpotenzial, von der springenden Masse erdrückt zu werden, nicht gegeben. Es war eine überschaubare Fangruppe, die in die Intersport Arena in Linz zum zweiten Österreich-Konzert des 40-jährigen Ex-Schockrockers fand, der dem mittlerweile recht erwachsen gewordenen Publikum eine selbstironische, musikalisch überraschend überzeugende und - ja, auch charmante 80-minütige Show bot. (Lesen Sie hier über Mansons Konzert in Innsbruck)
Selbstironie
Ohne
Effekt geht's nicht, aber statt bis zur Unkenntlichkeit geschminkt und
mit Messer-Mikro wie in früheren Phasen eröffnete Manson mit dem Song "Four
Rusted Horses" von seinem neuen Album
"The High End of Low", der selbstironischer nicht klingen
könnte: "Everyone will come to my funeral / Just to make sure that I stay
dead" (Jeder wird zu meinem Begräbnis kommen, nur um sicher zu gehen, dass
ich tot bleibe). Tot ist Marilyn Manson zwar nicht, aber das Interesse hat
nach der Veröffentlichung des vor Herzschmerz triefenden Vorgängeralbums
"Eat Me, Drink Me" deutlich abgenommen.
Greifen in die Hose ist Pflichtprogramm
Umso mehr reflektiert der
sich einst über Selbstverstümmelung vermarktende Bürgerschreck nun auf
(sein) Startum: Nach fast jedem Song stürmen drei Helfer auf die Bühne, die
den a la Marilyn Monroe im Wind stehenden Rockstar (mit wehendem, schütteren
Haar) mit Handtüchern abtupfen und ihm eine Sauerstoffmaske aufs Gesicht
drücken. Zwischendurch richten sie immer wieder gleißende
Studio-Scheinwerfer auf die bleiche Diva, die vor jedem Schluck
Mineralwasser eine neue Flasche öffnet, die im Anschluss umgehend im
Publikum landet. Nur die große Rasierklinge, die auf Mansons Shirt gedruckt
ist, erinnert augenzwinkernd an frühere Live-Selbstverletzungen. Das stete
Greifen in die Hose ist mittlerweile zum Pflichtprogramm verkommen.
Gesangliche Performance war großartig
Doch so sehr Manson
seine eigene Show aufs Korn nimmt, so intensiv konzentriert er sich nun auf
seine gesangliche Performance, die bei manchen Konzerten in der
Vergangenheit sehr in den Hintergrund getreten war. Zu gute kommt dem
Klangerlebnis eindeutig die Wiedervereinigung mit Twiggy Ramirez, der nicht
nur für die klare Härte auf dem neuen Album verantwortlich ist, sondern live
auch den alten Hits wie "Disposable Teens", "Dope Show" oder "Sweet Dreams"
neue Schärfe verleiht. Dass auch das neue Material durchaus konzerttauglich
ist, zeigte sich bei Songs wie "Arma-goddamn-motherfuckin-geddon", "We're
from America" oder dem kontroversen "Pretty As A Swastika" (das Jahrtausende
alte Symbol wurde in der NS-Zeit in abgewandelter Form zum Hakenkreuz, Anm.).
Überzeugte Massen mit solider Leistung
Dass Manson keinen
Song vom Vorgängeralbum spielen würde, hatte er in mehreren Interviews
angekündigt. Doch bei der Zugabe, auf die der Musiker bei den meisten
Konzerten verzichtet, gab er (diesmal mit Messer-Mikrofon, also doch Effekt)
"If I was Your Vampire" zum Besten. Nach zehnminütigem Geschrei kam er
nochmals zurück und beendete den Abend mit "Beautiful People". In Linz hat
der einstige Antichrist Superstar bewiesen, dass er jenseits von Schminke,
Hysterie und Masse überzeugen kann.