Nobelpreisträger bleibt seinem Stil treu: Geschichte voller dunkler Andeutungen.
Der neue Laureat beherrsche die Kunst der Erinnerung und rufe mit seiner Sprache unbegreifliche menschliche Schicksale wach, begründete die Schwedische Akademie kürzlich die Wahl des Franzosen Patrick Modiano zum Literaturnobelpreisträger 2014. Die heute erscheinende deutsche Übersetzung seines Romans "Gräser der Nacht", die der Hanser Verlag vorgezogen hat, liegt ganz auf dieser Linie.
"Gräser der Nacht“
Anhand eines alten, schwarzen Notizbuches erinnert sich ein Mann an obskure Ereignisse und geheimnisvolle Bekanntschaften, die ihn ein halbes Jahrhundert zuvor in Paris beschäftigt hatten. Da wimmelt es von Namen wie Aghamouri, Paul Chastagnier oder schlicht "Georges", Uhrzeiten, Adressen und Telefonnummern. Im Mittelpunkt des mysteriösen Treibens in verschwiegenen Hotels und nächtlichen Bistros steht Dannie, eine anziehende junge Frau, die offenbar einiges zu verbergen hat, wechselnde Namen wie Wohnsitze hat und sich auch schon mal zu Wohnungen Zutritt verschafft, die ihr nicht gehören.
Paris der 60er Jahre
Diesmal bildet jedoch nicht das Paris der deutschen Besatzung den Hintergrund, sondern die 1960er Jahre und eine unklare Verbindung zu Marokko, das erst 1956 von Frankreich in die Unabhängigkeit entlassen worden war. Die nie ganz aufgeklärte Affäre Ben Barka, als ein marokkanischer Exilpolitiker 1965 mutmaßlich unter Mitwirkung des französischen Geheimdienstes in Paris entführt und ermordet wurde, auf die Modiano offenbar anspielt, dürften hierzulande kaum in Erinnerung sein. Der deutschsprachige Leser tappt also gemeinsam mit dem Ich-Erzähler Jean im Dunklen.
Düstere Atmosphäre, Nebel, Geheimnisse
Modiano ist ein Meister der Andeutungen. Er entwirft eine düstere Atmosphäre, in der alles im Unklaren bleibt. Die spärlich beleuchteten Szenen, die zwischen der Cite Universitaire und Montparnasse spielen, könnten direkt aus einem Film-noir-Drehbuch stammen und sind auch eine wehmütige Erinnerung an eine Zeit, als manch altes Stadtviertel noch nicht Neubauten und Wolkenkratzern weichen musste. Soviel Nebelmaschine, soviel Geheimniskrämerei kann einem freilich auch auf die Nerven gehen. Da wünscht man sich, dass die Polizei-Vorladungen, die Jean später erhält, Aufklärung bringen. Aber auch der Beamte namens Langlais, der die Verhöre führt, schüttelt, als ihm klar wird, dass sein Gegenüber nicht weiß, in welche Machenschaften seine Bekannten verwickelt waren, bloß den Kopf und murmelt: "Sie hatten schon merkwürdigen Umgang."
Keine Aufklärung
Sogar Jahrzehnte später, als der mittlerweile pensionierte Ermittler Jean seine Akte von damals übergibt, ergibt sich keine endgültige Aufklärung - weder über die wirkliche Verstrickung und Schuld der schönen Freundin, noch über ihren Verbleib, als sie eines Morgens unter Hinterlassung eines kurzen Abschiedsbriefs ("Wenn ich fortgehe, dann nur, weil ich dir keine Unannehmlichkeiten bescheren will.") aus seinem Leben verschwindet. Doch mit Licht ins Dunkel würde sich Modiano wohl seine eigene Arbeitsgrundlage entziehen. Und die Sache mit der Nobelpreiswürdigkeit muss ohnedies jeder Leser mit sich selbst klären.
Rekord-Buchauflagen
Die Auflagen von Modianos Büchern sind jedenfalls auch in der deutschen Übersetzung steil nach oben geklettert. Und wer nicht auf die Übertragung des in Frankreich bereits erschienenen nächsten Buches ("Pour que tu ne te perdes pas dans le quartier") warten will, für den hat Hanser den Roman "Dora Bruder" aus 1998 neu aufgelegt. Darin versucht der Erzähler anhand von Zeitungsausschnitten und Polizeiakten das Verschwinden eines jüdischen Mädchens während der Nazi-Besetzung Frankreichs zu rekonstruieren. Die Kunst und Erinnerung und menschliche Schicksale - ein typischer Modiano eben.
© Getty Images/ FilmMagic / WireImage
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