"I Dreamed A Dream" verkaufte sich mehr als 6,2 Millionen Mal
Das Märchen über den kometenhaften Aufstieg vom Niemand zum Weltstar ist wahr geworden. "Es ist so ein bisschen wie die Geschichte vom Aschenputtel", sagt das schottische Gesangstalent Susan Boyle (48) über sich selbst. Ihr "Märchen" ist ein Bestseller. In nur vier Wochen verkaufte sich ihr erstes Album "I Dreamed A Dream" (Ich hatte einen Traum), das kein einziges eigenes Lied enthält, mehr als 6,2 Millionen Mal und ist damit die weltweit erfolgreichste Platte in diesem Jahr.
Aschenputtel
Die Verpackung ist in der Musikbranche in diesem
Jahrzehnt zum wichtigsten Element geworden. Boyles Verpackung heißt
Aschenputtel. Ihre Version geht so: Es war einmal eine Hausfrau, die Gutes
für die Gesellschaft als Ehrenamtliche in der Kirche leistete. "Subo" liebt
es zu singen, am liebsten für ihre Katze "Pebbles". Von den Menschen in
ihrem Umfeld fühlte sich die warmherzige Frau Zeit ihres Lebens stets
unterdrückt. Doch im vergangenen Jänner, da kam der derzeitige britische
Plattenkönig Simon Cowell in ihre Heimatstadt. Der
Juror der Fernsehshow "Britain's Got Talent" verliebte sich in die Stimme
der ungezähmten, aber scheuen Frau und zog ihr den Schuh an, der sie seither
auf die Bretter führt, die die Welt bedeuten.
Potts ist Boyles Vorbild
Seit dem Fernsehauftritt bricht
Boyle Weltrekorde. Millionen sind angesichts ihres Äußeren von der
Stimme, der Aufmerksamkeit oder den Verkaufszahlen verblüfft - nur nicht sie
selbst: "Eine Frau, die mit wilden Haaren, buschigen Augenbrauen und dem
Kleid, das ich trug, auftritt, muss einfach bemerkt werden", sagt sie
selbstreflektierend. Da scheint der ebenso überraschende Erfolg des vorherigen
Talentshowsiegers Paul Potts, übergewichtig und mit schiefen Zähnen,
fast schon normal. Boyle nennt ihn "außergewöhnlich, ein Vorbild".
Jackson
Die hohe Verkaufszahl ihres Debütalbums ist in einer
Zeit, in der illegale Downloads zum Alltag gehören, erstaunlich, wird jedoch
erst richtig deutlich beim Vergleich mit dem kommerziellen Maß aller
Einzelkünstler in der Popmusik: Michael Jackson (1958-2009). Seine sechste
und erfolgreichste Platte "Thriller" verzeichnete in ihrer Hochzeit weltweit
bis zu eine Million Verkäufe pro Woche. Boyles Debütalbum liegt momentan im
Schnitt bei 1,55 Millionen Stück. Das Aschenputtel des 21. Jahrhunderts
startet etwa in dem Alter durch, in dem Jacksons Leben endete. Doch
gegensätzlicher können die Märchenwelten beider Musiker nicht sein:
Neverland Ranch gegen Blackburn, ein Dorf vor den Toren Edinburghs. Wie die
dortige Burg ist Boyles Leben abgeschirmt. Interviews gibt sie laut ihrer
Agentin nur noch nach Zustimmung ihrer Berater gegen Geld. Ein fünfstelliger
Pfund-Betrag wird laut Branchenkreisen für jede Fernsehminute fällig. Der
Schwarzmarkt für Fanartikel - Boxershorts, Statuetten, Babystrampler -
verursachte bisher allein im Internet Einnahmeausfälle von schätzungsweise
sechs Millionen Euro.
Obama ist prominenter Fan
Der Marktwert des modernen
"Aschenputtels" ist nach weniger als einem Jahr auf der Bühne enorm, denn
ihre Fangemeinde ist riesig. Ihr Auftritt in der Talentshow ist das meist
gesehene Video des Jahres auf dem Clip-Portal
YouTube mit 120 Millionen Klicks. Zu den prominenten Fans zählt
US-Präsident Barack Obama.
Snoop Dogg über Boyle
Laut US-Rapper Snoop Dogg trifft
Boyles einmalige Verpackung in der Musikbranche den Zeitgeist. "Man muss
anders sein und sich von anderen zur richtigen Zeit unterscheiden", sagte
der 38-Jährige in einem Interview. "Das Timing muss einwandfrei sein,
manchmal hat man darauf keinen Einfluss." Sein Kollege 50 Cent findet die
Schottin "so geil", sagte er dem "Daily Mirror", er würde sie am liebsten
auf eine Clubtour mitnehmen. Auf seinem nächsten Lied sei Boyle zu hören.
Schläge als Kind
Und was sagt die auffällig stille Boyle
über ihren musikalischen Riesenerfolg? "Es ist eine ungewöhnliche
Geschichte", meint die Schottin in einem Interview, das ihre PR-Berater bearbeiteten. Boyle ist nach eigener Aussage als Schülerin
verhaltensauffällig gewesen. Sie habe Schläge von "verständnislosen Lehrern"
bekommen. "Ich brauche einfach ein klein wenig mehr Zeit, um Sachen zu
verstehen als andere. In einem System, in dem alle Zeichen auf Sturm stehen,
wird man da zurückgelassen." Ihre Familie habe sie davon abgehalten, in
einem keltisch-gestreiften Fußballtrikot im Fernsehen aufzutreten.
Singen als Schutzinsel
"Subo" ist das jüngste von neun Kindern.
Ihren Eltern habe sie versprochen, etwas mit ihrer Stimme zu machen - nur
deshalb singe sie. "Der Traum meines Vaters, Sänger zu werden, wird durch
mich wahr; er wäre stolz gewesen." Ihr Vater starb vor zehn Jahren, ihre
Mutter vor zwei Jahren. "Sie, von der ich so abhängig war, plötzlich nicht
mehr an meiner Seite zu haben, war eine Lebensumstellung. Ich musste lernen,
Dinge für mich selbst zu machen." Aus dem behüteten Familiennest traute sich
Boyle kaum raus. Sie habe Schwierigkeiten gehabt, Freundschaften zu
schließen. "Ich habe mit Leuten versucht zu reden, aber die haben sich
lustig über mich gemacht. Ich fühlte mich häufig ins Abseits abgeschoben."
Das Singen ganz alleine sei ihre Schutzinsel gewesen; eine emotionale
Befreiung für ihre "leichte Behinderung", die sie nicht genauer benannte.
Boyle schlägt GaGa!
Die Mezzosopranistin bewies den vielen
jungen Musikstars, dass auch alte Eisen noch Feuer haben. In den weltweiten
Albumcharts lieferte sie sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit einem Star der
Jugend. Die 23 Jahre alte Lady Gaga verkaufte mit ihrem aufreizenden
Auftreten und 80er-Sound mehr als 5,8 Millionen Mal ihre Platte "The Fame".
Der Verkauf wurde jedoch mit einer Neuveröffentlichung im Herbst
angekurbelt. Die doppelt so alte Schottin überholte die US-Sängerin spielend
in nur vier Verkaufswochen.