Kein Platz für Nostalgie
Rolling Stones im Londoner Hyde Park
08.07.2013
44 Jahre nach legendärem Gig kehrten Jagger und Co. an Ort des Triumphes zurück.
Nennt sich eine Tour "50 & Counting", könnte schnell der Verdacht aufkommen, dass mit jahrzehntelang erprobtem Songmaterial nur noch Dienst nach Vorschrift exerziert wird. Stehen hinter diesem Motto allerdings die Rolling Stones, dann gelingen nicht nur zigfach erklungene Klassiker zu wahren Sternstunden des Rock'n'Roll, sondern wird auch eine Energie an den Tag gelegt, die das Durchschnittsalter von 69 Jahren schnell vergessen macht. Am 6. Juli beehrten die britischen Rocker den Londoner Hyde Park – jenen Ort also, an dem sie vor 44 Jahren ein legendäres Konzert absolvierten. Vor 65.000 jubelnden Fans gab es dabei aber keinen Grund zur Nostalgie. Dafür stehen Mick Jagger und Co. als Musiker einfach zu sehr im Hier und Jetzt.
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Stones mehr als nur fit
Bereits "Start Me Up" machte kurz vor halb acht Uhr Ortszeit klar, in welche Richtung es gehen würde: Jagger, die Gitarristen Keith Richards und Ronnie Wood sowie Drummer Charlie Watts mögen zwar aussehen wie Rock-Opas – britische Medien titelten anlässlich des ersten Auftritts der Stones beim Glastonbury-Festival vor wenigen Tagen gar von der "Night of the Living Dead". Aber wenn dieser fiebrige Rhythmus in Kombination mit enorm druckvollen Gitarren aus den Boxen dröhnt, gibt es einfach kein Halten mehr. Schließlich ist es "Only Rock'n'Roll", wie gleich darauf kundgetan wurde. Ohne Schnörkel, dafür akzentuiert und auf den Punkt gebracht.
Rollenverteilung war klar geregelt
Der Neuigkeitswert eines Stones-Konzert hält sich aber natürlich in Grenzen, zu klar sind die Rollen verteilt, zu bestimmend der umfangreiche Backkatalog mit einer Unzahl an Hits. Während Watts den Stoiker hinter seinem Set gab, gemeinsam mit dem langjährigen Tourbassisten Darryl Jones folglich das rhythmische Fundament für diesen Abend zimmerte, durfte Wood in gewohnter Manier den Schelm raushängen lassen. Und Keith Richards ist sowieso ein Kapitel für sich, auch wenn er an diesem lauen Londoner Sommerabend enorm überzeugend agierte, wie auch die zwei von ihm gesungenen Stücke "You Got the Silver" und "Before They Make Me Run" zeigten.
70-Jähriger in spe rockte ordentlich ab
Jagger hingegen ist unnachahmlich im Rockzirkus: Nur wenige Wochen vor seinem 70. Geburtstag ist der Frontmann mit dem vielleicht größten Mund der Welt eine charismatische Persönlichkeit wie eh und je. Und – der letztlich springende Punkt – nach wie vor einer der besten Sänger im Metier. Egal ob der düster-atmosphärische Gassenhauer "Paint It Black", das große, gemeinsam mit Backgroundsängerin Lisa Fisher intonierte "Gimme Shelter" oder das von den Fans per Online-Voting ins Set reklamierte "All Down The Line": Hier passte einfach alles, vom stimmlichen Volumen, dem immer noch unglaublichen Laufeinsatz auf der Bühne bis zum Signature-Tanz. Jagger zuckte und schrie, tänzelte und säuselte, swingte und phrasierte wie in seinen besten Zeiten.
1969 kamen 250.000 Leute zum Gratis Konzert
Dass man mit diesem ersten von zwei Hyde-Park-Konzerten nun auch dem Auftritt Gleicherorts am 5. Juli 1969 huldigte, war eigentlich nur am Rande Thema. Damals, vor fast auf den Tag genau 44 Jahren, gaben die Stones vor 250.000 Leuten ein Gratis-Konzert, das auch im Zeichen des wenige Tage zuvor verstorbenen Ex-Gitarristen und Gründungsmitglied Brian Jones stand. Im Jahr 2013 gab es immerhin für einen halben Song Jaggers weißes Kostüm von damals zu erleben. "Erinnert ihr euch noch daran?", fragte der 69-Jährige süffisant. Die 2.500 Schmetterlinge, die vor mehr als vier Jahrzehnten in den Himmel entlassen wurden, erschienen diesmal aber nur per digitaler Hommage, die das gefühlvolle und mit einem herrlichen Basssolo von Darryl Jones verzierte "Miss You" begleitete.
Gratis spielen Stones nicht mehr, dafür leisten sie viel
Aber wer will schon in der Vergangenheit leben, wenn Stücke wie das live auf mehr als zehn Minuten gedehnte "Midnight Rambler" auch gut 40 Jahre nach ihrem Entstehen einfach zum Besten gehören, was Rockmusik zu bieten hat. Eingerahmt von einer Bühne, für die vier riesige Eichen nachgebaut wurden, um dem damaligen Erscheinungsbild des Hyde Park Tribut zu zollen, gaben die vier Stones mit ihren Kollegen – etwa Keyboarder Chuck Leavell oder Ex-Mitglied Mick Taylor bei zwei Songs – eine zweistündige Leistungsschau, die trotz Feuerwerk, Konfettiregen und großflächiger Visuals nur auf eines fokussierte: die Musik.
Hit-Feuerwerk in London
Im letzten Drittel bekam die Menge schlussendlich, wonach sie so sehnsüchtig gierte, wurden die Hits einer nach dem anderen in die Londoner Nachtluft geschleudert und schwoll das Publikum immer wieder zu einem Chor der Tausend Stimmen an. "Jumpin' Jack Flash", "Sympathy For The Devil" inklusive eines brennenden Waldes als visueller Bühnenakzent, "Brown Sugar" sowie die erste Zugabe "You Can't Always Get What You Want" mit Unterstützung des Londoner Youth Choir ließen kaum mehr Wünsche offen. Und doch: "Satisfaction" durfte natürlich nicht fehlen. Nach 19 Songs in zwei Stunden verabschiedeten sich die jüngsten Alten des Business von einem enthusiasmierten Publikum. Zu behaupten, dass das Rückspiel am kommenden Samstag die Vormachtstellung dieser Heimmannschaft nur noch untermauern kann, ist wohl keine Risikowette. Denn Nostalgie ist hier fehl am Platz. Rock'n'Roll, Leidenschaft und die Rolling Stones können auch nach mehr als 50 Jahren stets aufeinander zählen.