Depressionen und Co.: Nur zehn Prozent der Betroffenen in Therapie.
Mehr als jeder dritte EU-Bürger leidet mindestens einmal im Jahr an einer psychischen Störung. Besonders häufig treten Angsterkrankungen, Depressionen und Schlaflosigkeit auf, ergab die bisher größte Studie zum Thema für die EU mit 27 Mitgliedsländern, die Schweiz, Norwegen und Island. Es handelte sich allerdings um keine neuen Daten, sondern um die Auswertung von bereits erfolgten Studien und von Daten aus der Fachliteratur zur sogenannten Zwölf-Monate-Prävalenz (Häufigkeit in der Bevölkerung innerhalb eines Jahres).
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Kein Einzelschicksal
"Es gab lange die Annahme, dass psychische und neurologische Störungen nur das Schicksal einzelner Personen sind. Das ist vollkommen abwegig", kommentierte der deutsche Studienleiter Hans-Ulrich Wittchen (TU Dresden) am Montag bei der Vorstellung der Ergebnisse im Rahmen des Kongresses des European College of Neuropsychopharmacology (ECNP) in Paris. "Warum sollte das Gehirn im Gegensatz zum Rest des Körpers gesünder sein, obwohl es um ein Vielfaches komplexer ist als andere Organe?", fügte der Experte hinzu. Niemand wundere sich, wenn er einmal im Jahr zum Arzt gehen müsse, weil er eine Erkältung oder etwas am Magen habe.
Schlafstörungen, Depressionen,...
Die Gesamtzahl der pro Jahr betroffenen Menschen in der EU und den Ländern Schweiz, Norwegen und Island - bezogen auf 514 Millionen Einwohner - schätzen die Experten nach der Metaanalyse vorhandener Daten auf 164,8 Millionen Menschen. Allein 61,5 Millionen Personen (14 Prozent) leiden demnach an Angststörungen, rund 30,3 Millionen (6,9 Prozent) unter Depressionen, fast ebenso viele Menschen an Schlafstörungen
, 6,3 Prozent an psychosomatischen Störungen und 6,3 Millionen an Demenzerkrankungen (je nach Altersgruppe zwischen ein und 30 Prozent, in der Altersgruppe der mehr als 60-Jährigen 5,4 Prozent). Nicht ganz so häufig sind der Analyse zufolge Krankheiten wie Alkohol- und Drogenkonsum (mehr als vier Prozent der Bevölkerung) oder Essstörungen (1,5 Millionen Betroffene). Neurologische Erkrankungen wie Schlaganfall, Morbus Parkinson oder Multiple Sklerose wurden im Gegensatz zur Demenz in dieser Statistik nicht berücksichtigt. Sie würden die Prozentzahl noch einmal erhöhen, schreiben die Autoren.
Richtig behandeln
"Das Besondere an psychischen oder neurologischen Störungen ist, dass sie im Gegensatz zu Stoffwechselerkrankungen oder Krebserkrankungen nur äußerst selten adäquat behandelt werden", sagte der an der Technischen Universität Dresden forschende Psychologe Wittchen. Nach der Auswertung der Daten würden in Europa nur zehn Prozent aller psychischen Störungen "minimal adäquat" behandelt. Selbst die besten Gesundheitssysteme schafften es bestenfalls, jeden zweiten Patienten einigermaßen gut zu behandeln.
Ein Kapazitätsproblem ist dies nach Einschätzung der Forscher nur bedingt. "Würde man die Zuweisung von vorhandenen Ressourcen und die Möglichkeiten optimieren, dann würde man durchaus in der Lage sein, ohne Mehrkosten eine ähnlich befriedigende Situation zu erreichen wie im Bereich Diabetes oder Herzerkrankungen", kommentierte Wittchen.
Als "politischen Fehler" sieht der Dresdner den Forschungsschwerpunkt der vergangenen Jahre. Dieser sei stark auf besonders dramatische Störungsbilder wie Depressionen und nachfolgende Suizide ausgerichtet gewesen, obwohl Depressionen oft infolge von anderen Erkrankungen auftreten würden.