Arbeitsplatz
#metoo im Job: "Es liegt nicht am Minirock"
30.09.2024Vom Traumjob in die Hölle: Mehr als die Hälfte aller Frauen und non-binären Personen hat bereits Belästigung am Arbeitsplatz erlebt. Psychologin Franziska Saxler verrät, warum das Office oft Nährboden für übergriffiges Verhalten ist – und was dagegen hilft.
Ein unerwünschtes Kompliment, ein Blick, ein anzüglicher Witz, eine ungewollte Einladung zum Essen, ein als Arbeitsgespräch getarnter Spaziergang – Belästigung am Arbeitsplatz hat viele Gesichter. Per Definition ist dann davon die Rede, wenn Personen aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert und herabgewürdigt werden. Die Täter sind statistisch gesehen großteils Männer. Obwohl aktuelle Statistiken belegen, dass etwa sechzig Prozent aller Frauen und non-binären Personen bereits Belästigung am Arbeitsplatz erleben, bezeichnen nur ungefähr zehn Prozent das Verhalten auch tatsächlich als Belästigung.
Als Flirt abgetan
Das hat mitunter historische Gründe. Denn der Begriff „sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz“ ist erst seit den 1960ern in Gebrauch. Das liegt daran, dass das damit verbundene Verhalten viele Jahre über als „normal“ galt – und oft auch auch weiterhin gilt. Dabei steht es außer Frage, dass sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erhebliche psychisch-soziale sowie jobbezogene Auswirkungen auf die betroffenen Personen haben kann. Und dennoch wurden derartige Erfahrungen in der Vergangenheit in viel zu vielen Fällen als harmlose Flirts abgetan oder nur dann als problematisch anerkannt, wenn sie mit körperlicher, also „offensichtlicher“ Gewalt einhergingen.
Hierarchie als Nährboden
Doch wo beginnt sexuelle Belästigung überhaupt? Gibt es ein „perfektes Opfer“? Wie ist es möglich, dass Betroffene, denen Leid widerfahren ist, Schuld und Scham empfinden und sich selbst infrage stellen? Und warum ist gerade das Büro so häufig Schauplatz und zugleich Tatort von degradierendem und grenzüberschreitendem Verhalten? „Es liegt nicht, wie viele zunächst vermuten, etwa daran, dass Frauen Miniröcke oder tief ausgeschnittene Blusen tragen“, erklärt Psychologin und Gründerin der Plattform #metooscience Franziska Saxler. Der Grund für die Häufigkeit sexueller Belästigung am Arbeitsplatz seien vielmehr starke Hierarchien, und in weiterer Folge auch Macht-, Abhängigkeits- und Diskriminierungsstrukturen. Diese seien im Arbeitsumfeld häufig besonders präsent – und ein regelrechter Nährboden für sexualisierendes und machtmissbräuchliches Verhalten. In ihrem brandneu erschienenen Buch „Er hat dich noch nicht mal angefasst – sexualisierte Belästigung und Machtmissbrauch im Job und wie wir uns davor schützen können“ beleuchtet Saxler derartige Strukturen genauer. Wir haben mit der Autorin ausführlich darüber gesprochen.
Frau Saxler, der Chef schickt ein WhatsApp anstatt eines E-Mails. Ist das sexuelle Belästigung?
Franziska Saxler: Solange das WhatsApp als angemessen empfunden wird, natürlich nicht. Belästigung beginnt an dem Punkt, an dem individuelle Grenzen überschritten werden, ein bestimmtes Verhalten für die betroffene Person unangenehm wird – und die Person aufgrund ihres Geschlechts herabgewürdigt wird.
Empfindet nicht jede/r etwas anderes als unangenehm?
Saxler: Natürlich. Das stellt auch nicht selten Probleme in puncto Begriffsdefinition und letztlich Justiz dar. Die sozialpsychologische ist sicher die niederschwelligste Definition von sexueller Belästigung. Sie beinhaltet ein Spektrum an Verhaltensweisen, das auf geschlechterbezogene Herabwürdigung abzielt und von dem wir aus der Forschung wissen, dass es bei einem Großteil der Menschen negative psychische und jobbezogene Folgen hat.
Welche negativen Konsequenzen können das sein?
Saxler: Bei sexualisierendem Verhalten werden Frauenkörper ungewollt objektifiziert. Die Message dahinter lautet: Das Aussehen ist wichtiger als die Kompetenz, das Wissen, die Intelligenz. Infolge sinken Arbeitsmotivation und Performance, die Motivation, das Unternehmen oder sogar den jeweiligen Arbeitskontext, in dem man sich befindet, zu verlassen, hingegen steigt. Die psychischen Symptome reichen von post-traumatischer Belastungsstörung bis hin zu Depressionen und Substanzmissbrauch.
Was ist das Hauptmotiv sexualisierten, herabwürdigenden Verhaltens?
Saxler: Es ist niemals Liebe. Es ist Macht. Die Täter würdigen andere herab, um sich selbst zu erhöhen und ihre Macht zur Schau zu stellen. Dadurch dass unsere Gesellschaft Macht und Männlichkeit miteinander assoziiert und Männer häufiger als Frauen in beruflichen Machtpositionen sind, sind sie eben auch häufiger Täter. Der Stereotyp einer Belästigung am Arbeitsplatz ist übrigens von sexueller Natur. Ein Mann zwingt eine ihm hierarchisch unterstellte Frau zu körperlicher Kooperation, indem er ihr Vorteile verspricht oder bei mangelnder Kooperation mit Nachteilen droht. Diese Fälle gibt es zwar, die allermeisten Belästigungen sehen aber anders aus. Zum Beispiel funktionieren sie – entgegen dem Stereotyp – zu neunzig Prozent ohne explizit ausgesprochene Erpressungen oder Androhungen von negativen Konsequenzen. Das macht sie aber nicht weniger unerwünscht. Oder weniger schädlich. Da am Arbeitsplatz oft Abhängigkeitsverhältnisse und Machtstrukturen vorherrschen, braucht es auch keine explizite Erpressung, um Druck zu empfinden, sich auf eine gewisse Art verhalten zu müssen.
Wieso fällt es vielen Frauen noch immer so schwer, sexuell belästigendes Verhalten zu erkennen bzw. richtig einzuordnen?
Saxler: Auch wenn es etwas in der Geschichte zurückreicht – Frauen waren nun einmal ganz lange Eigentum ihrer Ehemänner. Ehemänner haben bestimmt, wann und ob Frauen arbeiten dürfen oder Zugang zu Konten bzw. finanziellen Ressourcen haben. Die Abhängigkeit war groß. Abgesehen davon wurden Mädchen und junge Frauen eher dazu erzogen, die Fehler zunächst einmal bei sich selbst zu suchen – und den Mann dadurch bloß nicht in Frage zu stellen.
Kommt sexuelle Belästigung in bestimmten Berufssparten besonders häufig vor?
Saxler: Laut Forschung gibt es drei Prädiktoren für sexuelle Belästigung in einem Unternehmen: starke Hierarchien, hohe Wettbewerbsorientiertheit und wenig Diversität, sprich meist männerdominierte Sparten.
Sind manche Menschen besonders gefährdet, zu Opfern zu werden?
Saxler: Ja. Abermals entspricht die Realität jedoch nicht dem gesellschaftlichen Narrativ. Es ist ein Mythos, dass Frauen, die sich freizügig kleiden und sexuell outgoing sind, eher Opfer sexueller Belästigung werden. Wer allerdings tatsächlich mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit belästigt wird, sind Personen, die auch unter anderen Formen der Diskriminierung leiden. Zum Beispiel sind das Menschen mit Migrationsgeschichte, mit Behinderung, nicht weiße Menschen und/oder insbesondere jene, die Teil der LGBTIQ+-Community sind.
Was hilft generell gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz?
Saxler: Aufklärung und Bewusstsein, dass Einvernehmlichkeit das A und O ist und anzügliche Witze im Büro nichts zu suchen haben. Natürlich gibt es auch strukturelle Stellschrauben: mehr Diversity und weniger Hierarchien in Unternehmen.
Vor wenigen Tagen ist Ihr Buch („Er hat dich noch nicht mal angefasst“ von Franziska Saxler, Ullstein Hardcover, um 20,99 Euro) erschienen. Warum der Titel „Er hat dich noch nicht mal angefasst“?
Saxler: Die meisten Belästigungen am Arbeitsplatz sind verbaler Natur, es wird niemand angefasst. Erst mal. Denn Belästigende testen oft schrittweise ihre Grenzen aus. Bekommen sie keinen Gegenwind, trauen sie sich weiter vor. Ich möchte darauf aufmerksam machen, wie wichtig es ist, dass wir Frauen, die solche Erfahrungen machen, zuhören.
Wer sollte ihr Buch lesen?
Saxler: Alle. (lacht) Vor allem aber sollten es Männer lesen. Frauen und non-binäre Personen haben die metoo-Debatte viel zu lange allein geführt. Sexuelle Belästigung ist im Kern jedoch kein Frauen-, sondern ein Männerproblem.