Crystal Renn, ehemaliges Magermodel, rechnet in ihrem neuen Buch "Hungry" mit dem Magerwahn ab. Interview in der neuen MADONNA.
Das Thema ist topaktuell, laufen doch zurzeit die Pariser „Prêt à
Porter“-Shows auf Hochtouren.
Ein Luxuslabel nach dem anderen
präsentiert seine neue Frühling/Sommer-Kollektion für 2010. Weniger neu
hingegen ist der Look jener Frauen, die die edle Designer-Ware auf den
Laufstegen präsentieren. Während bei der „London Fashion Week“ die Präsenz
von einigen wenigen kurvigeren Models zum neuen „Trend zur Weiblichkeit“
hochstilisiert wurde, setzen französische Couturiers nach wie vor auf
„weniger ist mehr“. „Nur wer dünner als dünn ist, hat das Zeug zum
Supermodel“, dachte auch Crystal Renn (heute 23). Drei furchtbare Jahre des
Hungerns und Leidens später weiß sie es besser. Denn Crystal Renn zählt
heute zur internationalen Modelelite. Die 1,75 Meter große Traumfrau gilt
als Muse von Stardesignern wie Jean Paul Gaultier, macht Werbung für Labels
wie Dolce & Gabbana und ist das Lieblingsmodel von Starfotografen wie
Steven Meisel, der die üppige Schönheit 2004 erstmals für Vogue ablichtete.
Und das trotz – oder gerade wegen – der 75 Kilo, die Crystal Renn inzwischen
auf die Waage bringt. Wie sich die Powerfrau ihr umwerfendes
Selbstbewusstsein jedoch erst erkämpfen musste, beschreibt Renn nun in ihrer
soeben erschienen Biografie „Hungry“.
Der Anfang vom Ende.
„Ich war 14 Jahre alt, als ich das Foto
sah“, erzählt Crystal Renn in ihrem Vorwort über ihre erste Begegnung mit
dem Schönheitsideal der Modewelt. „In den paar Sekunden, die es dauerte,
Giseles Schönheit und erotische Ausstrahlung aufzunehmen, hatte sich in mir
eine neue Vorstellung von weiblicher Perfektion gebildet. Das war der
Moment, in dem der Scout sagte: Das könntest du sein. Da ist nur eine
Kleinigkeit – du müsstest ein bisschen abnehmen.“ Dieser Satz sollte das
Leben der 14-Jährigen für immer verändern. Sie beginnt einen erbitterten
Kampf gegen ihre Kilos, gegen ihren Körper. Um jeden Preis will Crystal Renn
Model werden, sich einen 250.000-Dollar-Vertrag mit einer renommierten
Agentur erhungern: „Ich verlor 26 Pfund (knapp 12 Kilo, Anm.) in drei
Monaten.(...) Als ich 120 Pfund (54 Kilo, Anm.) unterschritten hatte, blieb
meine Regel aus. Woran sich die nächsten drei Jahre nichts änderte. (...)
Mehr als alles andere bedauerte ich, dass ich zwischen meinen Oberschenkeln
keine solche Lücke hatte wie die Models auf meinen Wänden. Das war das
goldene Dreieck, dieser Zwischenraum, dieses nichts. Ich starrte auf
klinische, asexuelle Weise Kate Moss auf den Schritt. Ich musste ihre Lücke
haben.“
47 Kilo.
Crystal Renn erreicht ihr Ziel, wiegt schließlich nur
noch 47 Kilo! „Ich zählte gerne die Venen meiner Arme. (...) Ich presste
meinen Arm an meine Seite und hoffte, dass er meinen Busen nicht berührte.
Ich presste ständig meinen Kiefer, damit er sich wölbte und quadratischer
aussah. (...) Eines Abends stand ich nackt mit geschlossenen Füßen vor
meinem Ganzkörper-Spiegel. Ich sah nicht, dass die Innenseiten meiner
Handgelenke aussahen wie blasse blaue Vogelflügel, ich sah meine
eingefallene Brust nicht. Alles, was ich sah, war die Lücke zwischen meinen
Oberschenkeln. Ich war in Ekstase.“
Doch obwohl Crystal Renn für einige Shootings und Shows gebucht wird – den richtigen Durchbruch schafft sie nicht. „Weil ich zutiefst unglücklich und immer hungrig war. Ich hatte keinen Glanz in den Augen, ich war ein Geist“, stellt das Model heute fest. „Und ungeachtet dessen, wie hart ich arbeitete, um dünn zu bleiben, dass mein Haar büschelweise ausfiel, auf meiner Haut die blauen Flecken blühten und mein Herz flatterte wie ein verletztes Vögelchen, begann ich zuzunehmen...“
Das brutale Modelbusiness.
Renns Gewichtszunahme (sie wog nun
„satte“ 49 Kilo) sollte nicht ohne Folgen bleiben: „Die kann ich nicht
gebrauchen. Sie ist massig!“, schrie etwa ein Producer bei einem Casting mit
ihr. „Wie fett bist du?, fragte er mich“, so Crystal in ihrem Buch. „Ich
versprach der Agentur, dass ich nun noch mehr im Fitnesscenter trainieren
würde, was ich auch tat. Dem Himmel sei Dank, sie glaubten mir. Ich wusste
von einem anderen Mädchen, dass sie im Sportstudio zweimal täglich mit ihrer
Unterschrift ihre Anwesenheit nachweisen musste. Wieder andere Mädchen
wurden mit der Anweisung, Gewicht zu verlieren, in Spas geschickt. Ein
Mädchen mit der Größe 34 oder 36 wurde in eine dieser
Flüssig-Diät-Abnehm-Programme in einer medizinischen Klinik gesteckt.“
Unverblümt rechnet Supermodel Crystal Renn mit der Brutalität in der Branche
ab: „Sie sagten: Du musst noch mehr abnehmen. Der Look ist dieses Jahr
Magersucht. Wir wollen nicht, dass du magersüchtig wirst, aber wir wollen,
dass du so aussiehst.“
Break-Down.
Am „Höhepunkt“ ihres Hungerwahns erleidet das
völlig abgemagerte Mädchen einen Zusammenbruch: „Ich war dauerhaft in einem
Zustand von Panik. Mir war die ganze Zeit kalt. Meine Haut nahm eine
gelbliche Farbe an. Ich hatte chronische Verstopfung. (...) Mein Rachen und
meine Gelenke schmerzten oft so sehr, dass ich am liebsten geschrien hätte.
(...) Ich weiß nicht, wie sich der Tod anfühlt, aber das musste der Anfang
sein. (...) Mitte 2002 bin ich auf der Madison Avenue einmal aus den
Latschen gekippt. Plötzlich machte mein Herz einen Sprung und einen dumpfen
Schlag,... Ich schlug auf dem schmutzigen Beton auf. Das war das einzige
Mal, dass ich ein Casting verpasste. Am nächsten Tag rannte ich schon
wieder. Rannte zu Castings. Rannte auf dem Laufband. Rannte der Realität
davon. Es war mir egal, dass das ungesund war. Ich wollte ein Supermodel
werden.“
„Übergrößen“-Model.
Aber Crystal
Renn wird bis zum Jahr 2003 kein Supermodel. Erst als sie beschließt, ihrem
Hungern ein Ende zu bereiten, verändert sich nicht nur ihr Leben, sondern
auch ihre Karriere: „Das auf den Oberschenkeln muss runter, sagte die
Agentin. (...) Du musst eine Diät machen. Der Speck von den Hüften muss
runter. Den Hüften. Nicht ‚deinen Hüften‘. Der Körper eines Models besteht
aus Stücken: Hüften, Brüste, Beine. Wir sind Grillhähnchen in Bikinis. (...)
Es gab einen Knacks. Ich konnte.das.nicht.mehr. In dem Augenblick, wo ich
das begriffen hatte, konnte ich zum ersten Mal seit Jahren wieder frei
atmen.“ Mit 17 Jahren beschließt Renn, Model zu bleiben, aber von nun an
Model für „Übergrößen“, wie Frauen mit Kleidergröße 38 Plus bezeichnet
werden, zu sein. „Ich nahm zu (...) Ich gewann an Kontur und Fröhlichkeit.
(...) Mein armer konfuser Körper brauchte eine Weile, um herauszufinden,
welche Größe er haben wollte. (...) Eine Zeit lang brauchte ich Größe 46,
bis ich mich bei 42 einpendelte.“ Nicht nur Crystals Körper veränderte sich.
Die Agentur Ford nahm die dunkelhaarige Beauty mit den feurigen Augen, in
die langsam Glanz zurückkehrte, unter Vertrag. Ein Shooting jagte das andere
– bis sie sich schließlich vor der Linse von Starfotograf Steven Meisel
wiederfand. „Steven engagierte mich für die ‚Figur‘-Ausgabe der Vogue. (...)
Noch bevor ich wieder im Appartement angekommen war, hatte Steven in der
Agentur angerufen und mich für die italienische Vogue gebucht.“
Inzwischen zählt Crystal Renn zu den bestbezahlten Models der USA. Auch privat hat die 23-Jährige ihr Glück gefunden. „Als Straight-Size-Model war ich solo. Erst als ich nicht mehr hungerte und nicht mehr voller Verachtung für meinen Körper war, war ich zum ersten Mal offen für eine Beziehung.“ Am 30. Juni 2007 heiratete Crystal ihre große Liebe Greg. Mit ihrem Buch „Hungry“ will sie nicht nur ihre Wahrheit erzählen, sondern andere ermutigen, sich anzunehmen. „Frauen sollten mich sehen und denken können: Sie ist schön. Aber auch: Ich kann auch so aussehen.“
Das Interview in voller Länge und mehr Bilder in der aktuellen MADONNA.
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