Hinter der Maske
Anna Wintour im privaten Gespräch
07.12.2012
Was befindet sich unter Anna Wintours perfekt geföntem Pagenkopf und ihrem Pokerface?
Kerzengerade, ungepolstert und gegossen aus gehärtetem Stahl – der Sessel, von dem aus Anna Wintour (63) die Vogue und die Fashionwelt regiert, ist in jeder Weise so kompromisslos wie der Ruf seiner Besitzerin. Anna findet ihn augenscheinlich komfortabel. Wie immer trägt sie ihren unverwechselbaren Style, der so typisch für sie ist, dass NBC den Look einst in die Liste der Top-Ten-Halloween-Kostüme aufgenommen hat. Die Frisur sitzt perfekt. Dazu trägt sie Chanel. Obwohl die Sonne gleisend in ihr Büro im 12. Stock des Condé Nast-Verlagshauses am Times Square scheint, trägt sie keine Sonnenbrille. Wintour lässt mich auf ihrem Sofa Platz nehmen. Dann fängt sie – ganz herzlich – zu plaudern an.
Sie beginnt mit ihrem Vater. Charles Wintour war zwischen 1959 und 1976 der Chefredakteur des London Evening Standard-Newspapers. „Jeder in der Familie“, erinnert sich Anna, „wusste, dass wir Kinder sehr wichtig für ihn waren. Aber wir wussten auch, dass ihm die Zeitung sehr wichtig war. Er war in keiner Weise ein abwesender Vater, aber er hat jedem von uns beigebracht, was Arbeitsethik bedeutet und wie wichtig es ist, zu lieben, was man im Leben macht.“ Wintour erinnert sich daran, als junges Mädchen durchs Büro des Vaters spaziert zu sein, alle Kolumnisten getroffen zu haben. „Ich kann mich, als wäre es gestern gewesen, an den Geruch der Druckerschwärze, wenn das Papier durch die Druckwalze gepresst wurde, erinnern. Mein Vater wollte, dass wir die Arbeiter in der Druckerei kennenlernen. Es war wie in einem alten Film. Aber ich habe verstanden, wie viel meinem Vater seine Arbeit bedeutete. Er liebte den Journalismus, er liebte Print.“
Schöne Erinnerung
Aus diesem Grund haben sich Wintour und ihr Bruder Patrick sowie Schwester Nora nach dem Tod des geliebten Vaters im November 1999 dazu entschlossen, Charles Wintour und sein Lebenswerk mit dem Wintour Award For Most Promising Playwright im Rahmen des Evening Standard Theatre Awards Jahr für Jahr zu feiern. „Mein Vater und meine Mutter (Anm. d. Red.: Eleanor Trego Baker)“, so die Vogue-Chefin, „liebten das Theater. Sie nahmen mich und meine Geschwister oft mit nach Stratford, in das The Old Vic, einfach überall hin....“
No-Go „Ja-Sager“
Seit 1988 ist Anna nun Chefredakteurin des Magazins und auch ihre „SoldatInnen“, wie die feuerrote Grace Coddington (Creative Director), der extravagante Redakteur André Leon Talley sowie der penible Hamish Bowles, sind bereits Originale mit Kultstatus in den USA. In der HBO-Dokumentation In Vogue: The Editor’s Eye, die kürzlich im US-TV zu Ehren des 120. Vogue-Geburtstags ausgestrahlt wurde, sieht man die Fashion-Profis bei der täglichen Arbeit. „Ich suche“, so verrät Wintour, „nach starken Persönlichkeiten. Ich mag keine Leute, die zu allem Ja sagen, was ich vorschlage. Ich will Menschen, die diskutieren und Nein sagen können – die eine eigene Meinung haben. Mein Vater hat an Personenkult geglaubt. Er hat große Schreiber zu seiner Zeitung gebracht. Ich versuche das auch.“
Apropos Personenkult
Wintour wirkt fast peinlich berührt, als ich ihr erzähle, dass bei einem ihrer letzten Fashion-Week-Auftritte in der Front Row – flankiert von Bodyguards – eine junge Dame vor Aufregung fast umgekippt wäre. „Ich bin nur dort, um meinen Job zu machen. Was bringt einem Berühmtheit schon? Vielleicht bekommt man einen besseren Tisch im Restaurant. Oder Tickets fürs Theater. Mein Fokus liegt auf den Menschen, die ich treffe, und auf Talent, das einem weiterhelfen kann. Ich versuche, meinen Lesern eine Welt zu zeigen, die sie so begeistert, wie sie uns begeistert.“ Und was begeistert Anna Wintour noch? „Eine der interessantesten Veränderungen zurzeit ist die Demokratisierung der Mode. Fashion ist heute für jedermann zugänglich. Die bekanntesten Designer arbeiten für H&M oder für Target. Das ist fantastisch!“ Der Schlüssel dafür, so glaubt sie, war Michelle Obama. „Wir haben heute eine First Lady, die J. Crew trägt, Thakoon oder Azzedine Alaïa – eine Tonleiter verschiedener Designer. Sie hat die Sichtweise der Frauen in Bezug auf Mode verändert.“
Nicht nur deshalb zählt Wintour zu einer der größten Unterstützerinnen von Barack Obama. „Es ist kein Geheimnis, dass ich hart für seine Kampagne gearbeitet habe. Und es ist schön zu sehen, dass man das Weiße Haus nicht mit Geld kaufen kann, so wie es die Republikaner versucht haben. Ich bin froh, dass Obama eine zweite Amtszeit regieren wird.“ Schließlich sind die USA mit New York zu ihrer neuen Heimat geworden. „Ich liebe London, es wird immer mein Zuhause sein, aber New York ist eine Stadt für Menschen, die arbeiten wollen. Und ich liebe, dass jeder von woanders kommt. Du wirst nicht nach deinem Akzent beurteilt oder daran, wer dein Vater war.“
Gekommen, um zu bleiben
Wintour spricht noch über ihre Anfänge als Journalistin in England bei Harper’s Bazaar, wo sie noch selbst zu Shootings ging und die Teile dafür herrichten musste. „Ich war jung und nicht besonders gut darin. Ich habe die Geduld nicht.“ Bei der US-Vogue gäbe es sogar für Schuhe und Unterwäsche einen eigenen Redakteur, der solche Arbeiten nun erledigt. Dann endet das Gespräch. Sie will mir nur noch kurz einen Song vorspielen, komponiert für sie. Da bekomme ich meine drei Minuten in Anna Wintours Chefsessel, der überraschend bequem ist. Ich bin nicht mutig genug, sie zu fragen, ob die Gerüchte stimmen, dass sie danach strebt, US-Botschafterin in London zu werden. Aber ich kann es sowieso nicht glauben. Diesen wunderbaren Platz kann man unmöglich verlassen wollen...
Luke Leitch/Daily Telegraph/The Interview People
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