Die Corona-Krise bringt jeden Einzelnen an die Grenzen seiner Belastbarkeit. Im Homeoffice soll auch die Freizeit produktiv genutzt werden. Ein Plädoyer gegen den Selbstoptimierungszwang im Lockdown
Pünktlich um 9.00 Uhr im Homeoffice. Vorher schon ein Workout gemacht, geduscht und eine reinigende Gesichtsmaske aufgelegt. Konzentriertes Arbeiten am Vormittag, mittags wird dann gekocht: gesund, frisch und nahrhaft. Nach dem Essen ein kurzer Spaziergang an der frischen Luft mit einem informativen Podcast im Ohr. Ein Zoom-Call, ein Skype-Meeting und unzählige E-Mails. Alles kein Problem. Dazwischen eine einstündige Yoga-Session zur Dehnung und Entspannung. Vielleicht lernen Sie ja den Kopfstand, den Spagat oder Jonglieren. Nach einem leichten Abendessen geht es noch für einige Minuten an die frische Luft, WhatsApp-Nachrichten werden beantwortet und dann ins Bett. Noch zehn Seiten des neuen Ratgebers lesen und Licht aus um Punkt 23.00 Uhr. So der ideale Tag im Homeoffice. Produktiv in jeder einzelnen Minute. Sogar Freizeit muss produktiv genutzt werden. Denn plötzlich, plötzlich ist da so viel Zeit! Zeit für all diese Projekte, die auf dem Regal mit der Aufschrift „Irgendwann einmal“ langsam verstaubten. Ausmisten, renovieren, organisieren. Die neue Diät, diese neue App, dieses hippe Sportprogramm. Bananenbrot backen und einen Sauerteig pflegen. Ganz wichtig: Selbstoptimierung. Immer und überall ständige Selbstoptimierung. Denn plötzlich haben wir ja so viel Zeit…
Keine Normalität
Wissen Sie was? Sie müssen gar nichts. Wir befinden uns mitten in einer globalen Pandemie, in einer noch niemals dagewesenen Situation. Es ist auf keinen Fall Normalität sondern ein absoluter Ausnahmezustand. Ein Lockdown kann, aber muss keinesfalls die langersehnte Chance sein, sich endlich, endlich den ganzen liegengelassenen Projekten zu widmen. Man kennt es bereits aus dem ersten Lockdown im März. In den ersten Wochen waren alle wahnsinnig ambitioniert, posteten ihre tagtäglichen Workouts, ihr Bananenbrot und ihre selbstgebackenen Croissants. Strichen Wände, sortierten Regale und trafen sich eifrig auf Face Time. Und dann? Dann setzte die Lethargie ein. Denn Selbstoptimierung inmitten einer Pandemie, in einer sehr unsicheren Zeit ist einfach nur anstrengend.
Sorgenvolle Zeit
Corona bringt jeden Einzelnen an die Grenzen seiner Belastbarkeit. Manche trifft es härter als andere, aber alle plagen plötzlich mehr denn je Zukunftsängste. Meist kommen auch noch finanzielle Sorgen oder gar der Jobverlust hinzu. Die Kinder brauchen Aufmerksamkeit und gleichzeitig ist es unsicher, wann wir unsere Eltern und Großeltern wieder sehen dürfen. Freunde vermissen, Arbeitskollegen vermissen, das alles ist keineswegs einfach. Wenn wir dann auch noch tägliche Homeworkouts absolvieren, mit der indischen Küche experimentieren und endlich unseren Kleiderschrank auf Minimalismus trimmen sollen, stresst das einfach nur unglaublich. Das Gehirn hat in dieser Zeit ohnehin schon genug zu verarbeiten und der einhergehende Herbst tut sein Übriges….
Das machen, was gut tut
Gerade in diesem Ausnahmezustand ist es umso wichtiger, sich nicht noch mehr von externen Faktoren stressen zu lassen. Es ist umso wichtiger, auf sein Bauchgefühl zu hören und selbständig zu entscheiden, was Körper und Geist gerade brauchen. Manchen hilft es ungemein eine gewisse Sportroutine zu haben und sie zappen sich durch Workouts auf YouTube, weil sie nicht ins Fitnessstudio dürfen. Wieder andere können wunderbar beim Yoga abschalten und entspannen. Andere finden allerdings, Kochen sei pure Meditation. Und vielleicht liebt es auch die eine oder andere auszumisten. Alles ist vollkommen in Ordnung.
Faulenzen ist okay
Ganz ehrlich, Sie können auch Mal stolz auf sich sein, wenn Sie es um 8:50 aus dem Bett schaffen, wenn ihr Homeoffice um 9.00 Uhr beginnt. Den ganzen Tag in der Pyjamahose bleiben und nur für das Zoom-Meeting ein frisches Oberteil anziehen? Natürlich. Und ja, auch Faulenzen ist okay. Auf Youtube bei süßen Welpenvideos abstürzen oder in der neuen Netflix-Serie versinken. Welpenvideos sind gut für die Psyche und jede Netflix-Serie lenkt kurz von den eigenen Problemen ab.
Nett zu sich selbst sein
Wer sich in diesem zweiten Lockdown noch zusätzlichem Stress aussetzt, tut sich selbst nichts Gutes. Jeder ist sich selbst der größte Kritiker, aber würden Sie mit einer guten Freundin so reden, wie Sie gerade mit sich selbst reden? Du schaffst das nicht, du kriegst dies nicht auf die Reihe, du bist unproduktiv und hast schon wieder Essen bestellt. Nein, natürlich nicht. Gerade jetzt ist es besonders wichtig, sich selbst Liebe und Empathie entgegenzubringen und auch einmal alle fünf gerade sein zu lassen…
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