Report aus dem Grenzort Nickelsdorf, der zum größten Flüchtlingscamp Europas wurde.
Der Strom scheint nicht mehr abzureißen. Apokalyptische Bilder. Es ist Samstagfrüh, regnet leicht, nur 15 Grad. Wie ein endloser Treck schleppen sich im Morgengrauen Tausende in kleinen Gruppen von Ungarn entlang der Autobahn zu Fuß in Richtung ehemaliges Zollamt Nickelsdorf. Frauen, Kinder, Ältere.
Alle sind erschöpft, durchnässt, frieren, haben Angst, wissen meist gar nicht, wo sie überhaupt sind. Manche Kinder haben gar keine Schuhe an, laufen barfuß. Sie weinen, klammern sich an den Röcken ihrer Mütter fest.
Ungarn hat die Flüchtlingsmassen in der Nacht zum Samstag einfach in Bussen aus Budapest bis nach Hegyeshalom geschickt, dem ungarischen Grenzort.
Hunderte Helfer warten bereits auf die Flüchtlinge
Dort müssen sie aussteigen, die letzten drei, vier Kilometer bis nach Österreich zu Fuß bewältigen: „Nemsa?, Nemsa?“, ruft mir ein junger Mann fragend entgegen: „Ist das Österreich?“ Ich sage: „Ja!“ Er fällt mir um den Hals, er und seine Freunde schreien: „Danke, Österreich! Danke! Österreich ist ein gutes Land!“
Plötzlich Hunderte glückliche Gesichter: Die Menschen weinen, sacken einfach auf dem Asphalt zusammen.
Selbst den Helfern auf österreichischer Seite schießen die Tränen in die Augen: „Das bewegt, das lässt keinen kalt“, sagt Josef Zimmermann, ein Rotkreuzmann aus dem Waldviertel. Er und sein Kollege Herbert Langer sind um vier Uhr in der Früh losgefahren: „Wir wollten helfen.“
Auf österreichischer Seite warten Hunderte Helfer auf die Flüchtlinge. Polizei, Rotes Kreuz. Dutzende Dr. Richard-Reisebusse stehen bereit. Perfekte Organisation. Ab ein Uhr früh waren alle alarmiert. Der große Lkw-Parkplatz in Nickelsdorf wurde geräumt, unter dem großen Flachdach der alten Zollstation wurde die Rotkreuzstation errichtet.
10.000 Flüchtlinge wurden an diesem Tag erwartet, 8.000 werden es, bis die Ungarn die Busse wieder stoppen. Nur 20 stellten einen Asylantrag in Österreich. „Zwar brauchten wir einige Zeit“, sagt der stellvertretende Polizeichef des Burgenlands Christian Stella (49) zu ÖSTERREICH, „um die Massen halbwegs in den Griff zu bekommen, nach und nach wurde es aber übersichtlicher.“
Nach Erstversorgung mit Wasser, Obst, Sandwiches werden alle in Gruppen eingeteilt: Familien mit Kindern, Freunde, Gruppen. Wie vor der Gondelbahn kann dann einer nach dem anderen in die Busse. Von Nickelsdorf werden sie zum Bahnhof gebracht. Dann geht die Reise per Zug weiter. Fast alle wollen nach Deutschland. Farwat, der mit seinen zehn Kindern seit fast 30 Tagen unterwegs ist, bringt es auf den Punkt: „Nirgendwo wurden wir so freundlich empfangen wie hier. Danke, Österreich!“
Protokoll eines historischen Tages: Die Reise in die Freiheit
Freitagmittag begann der „Marsch der Hoffnung“: Nach Tagen unter unerträglichen Bedingungen am Budapester Bahnhof Keleti brachen Tausende Flüchtlinge zu Fuß zur österreichischen Grenze auf. Das Protokoll des Trecks gen Westen:
- Freitag, 12.30 Uhr. Hunderte Flüchtlinge machen sich vom Budapester Bahnhof auf den Weg, viele Familien mit Kindern. Es werden immer mehr, bald weit über tausend. Ihr Ziel: Austria.
- 19 Uhr. Die völlig erschöpften Flüchtlinge gehen am Pannenstreifen, entlang der Autobahn M 1.
- 21.40 Uhr. Ungarn will die Flüchtlinge mit Bussen an die Grenze bringen.
- 00.00 Uhr. Kanzler Faymann erklärt nach Telefonaten mit Deutschlands Kanzlerin Merkel und Ungarns Premier Orbán, Österreich werde die Flüchtlinge ein- und weiterreisen lassen.
- Samstag, 1.30 Uhr. Der erste ungarische Bus mit Flüchtlingen fährt von der M 1 Richtung Grenze. Wenig später starten Busse vom Budapester Bahnhof.
- 3 Uhr. Der erste Bus erreicht den Grenzort. Die Flüchtlinge steigen aus, gehen zu Fuß nach Österreich und werden in Nickelsdorf medizinisch vom Roten Kreuz versorgt, Essen und Wasser wird ausgegeben.
- 6.15 Uhr. Erster Sonderzug der ÖBB fährt Flüchtlinge von Nickelsdorf nach Wien. Hunderte Freiwilige begrüßen sie dort, verteilen Essen und Spielzeug.
- 12.20 Uhr. Auch mit Bussen kommen Flüchtlinge von der Grenze zum Westbahnhof. Viele fahren per Zug weiter nach Salzburg und dann nach München.
- 12.30 Uhr. Ungarn stoppt die Busse. Es sei eine „einmalige Aktion“ gewesen. Erneut machen sich Hunderte vom Budapester Bahnhof zu Fuß Richtung Grenze auf.
- 15 Uhr. Innenministerin Mikl-Leitner am Westbahnhof und dann in Nickelsdorf. In Wien wird sie von Flüchtlingen bejubelt, in Nickelsdorf wird sie von zwei Aktivistinnen beschimpft.
- 20 Uhr. Der letzte Sonderzug des Tages verlässt Nickelsdorf in Richtung Wien, am Sonntag soll es in der Früh weitergehen.
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