71 Menschen qualvoll in Kühl-Lkw erstickt. Zehn Angeklagte schwer bewacht vorgeführt.
Am Gericht in Kecskemet in Ungarn muss sich seit Mittwochfrüh eine Schlepperbande wegen des Erstickungstods von 71 Flüchtlingen in einem Kühl-Lkw im August 2015 verantworten. Zehn Bandenmitglieder nahmen auf der Anklagebank Platz, ein Mann ist noch auf der Flucht. Den Beschuldigten wird u.a. qualifizierter Mord und Schlepperei im Rahmen einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen.
Den Kühl-Lkw mit den Leichen stellten die Schlepper in einer Pannenbucht an der Autobahn bei Parndorf im Burgenland ab. Das Fahrzeug wurde schlussendlich von österreichischen Polizisten entdeckt. Im Zuge der Ermittlungen wurde die Bande, hauptsächlich Bulgaren, und deren afghanischer Boss festgenommen und in Ungarn angeklagt.
Prozess-Start mit Verspätung
Das Verfahren hat mit etlicher Verspätung begonnen. Nicht nur, dass weitaus mehr Journalisten als von der Behörde erwartet in die Kleinstadt gereist waren und keinen Platz im Saal gefunden haben, gab es Diskussionen mit dem Hauptangeklagten, der sich über die Übersetzung der Gerichtsdolmetscherin beschwerte. Zudem mussten sich die schwer bewachten Beschuldigten aufgrund des großen Medieninteresses erst den Weg zum Saal bahnen.
Die Bande soll laut Anklage mehr als 1.200 Menschen illegal nach Westeuropa gebracht haben. Dabei kassierte allein der Bandenchef mehr als 300.000 Euro. Ab Juni 2015 schmuggelte die Gruppe verstärkt Flüchtlinge von Serbien über Ungarn nach Österreich bzw. Deutschland. 31 solcher Fahrten konnte die Staatsanwaltschaft in Ungarn nachweisen.
© APA/GEORG HOCHMUTH
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100 Flüchtlinge mit einem Transport
Der 30-jährige Chef der Bande schloss sich im Frühjahr 2015 einer international agierenden kriminellen Organisation an, die illegale Migranten nach Westeuropa, vornämlich nach Österreich und Deutschland schleuste. Die Flüchtlinge aus Afghanistan, Syrien und dem Irak kamen zunächst über die West-Balkan-Route, über die Türkei, Griechenland und Serbien zur ungarischen Grenze. In der Gegend von Morahalom-Domaszek angekommen, wurde der 30-Jährige von - bisher nicht identifizierten - Hintermännern informiert, dass er die Flüchtlinge nun nach Westeuropa bringen könne.
Zur Ausführung seiner Vorhaben nahm er einen gleichaltrigen Bulgaren in die Bande auf, der fortan als sein Stellvertreter agierte. Der 30-Jährige hatte gute Kontakte zu Kriminellen in Bulgarien und beschaffte dem Afghanen die Schlepperfahrer. Zudem sprach der Bulgare nicht nur Serbisch, sondern auch Deutsch, was den Kriminellen für die Fahrten nach Österreich und Deutschland nutzte.
Am Anfang schleppte die Bande 20 bis 40 Migranten pro Auto. Doch aufgrund des hohen Drucks durch die Hintermänner wurden immer öfter Fahrzeuge mit mehr Fassungsvermögen besorgt. Am Ende waren es rund 100 Flüchtlinge, die mit nur einem Transport nach Westeuropa gebracht wurden. Diese Fahrten wurden zur Qual für die Geschleppten, hielt die Staatsanwaltschaft fest.
Tödliche Falle
Eine dieser Schlepperfahrten wurde am 26. August 2015 zur tödlichen Falle. Die Bande kaufte mit Hilfe eines bulgarisch-libanesischen Staatsbürgers (52) neue Schlepperfahrzeuge. Der Mann hatte zunächst in Österreich gelebt und war 2008 nach Kecskemet gegangen, um dort als Gebrauchtwagenhändler zu arbeiten. Am 18. August 2015 erwarben sie laut Anklage bei einem Händler nahe Kecskemet einen gebrauchten Kühltransporter sowie zwei Mercedes Sprinter und zahlten einen Preis von insgesamt 6.250.000 Forint (rund 20.350 Euro).
In der Nacht auf 26. August 2015 wurde der Kühl-Lkw erstmals eingesetzt. In einem Waldstück nahe der Grenze bei Morahalom warteten 71 Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak, dem Iran und aus Afghanistan - darunter acht Frauen und vier Kinder - , um in den Westen gebracht zu werden. Ein 26-jähriger Bulgare fuhr den Lastwagen, begleitet von einem 39-jährigen Landsmann, der mit eigenem Auto unterwegs war, um die Lage zu sondieren. Die beiden Bandenbosse fungierten als Aufpasser und begleiteten zum Teil den Transport mit ihren eigenen Fahrzeugen. Der 26-jährige Lenker des Lkw erhielt für die Fahrt 3.500 Euro, sein 39-jähriger Komplize 1.500 Euro.
71 Menschen qualvoll erstickt
Die 71 Menschen wurden auf eine 14,26 Quadratmeter große Ladefläche gepfercht, die eigentlich für Kühlware gedacht war. Es gab keine Lüftung, keine Fenster, keine Innenbeleuchtung, keine Sitzgelegenheit und keine Haltegriffe, hielt die Staatsanwaltschaft fest. Die Tür des Frachtraums konnte nur von außen geöffnet werden.
Bereits nach 40 Minuten machten die Menschen in dem Lkw auf sich aufmerksam, dass sie keine Luft mehr bekommen. Sie hämmerten gegen die Frachtraumwände und schrien lauthals. Die beiden Männer informierten ihre Bandenbosse darüber, doch die beiden gaben die Anweisung, sich nicht um die Insassen zu kümmern, sondern weiterzufahren. Laut Staatsanwaltschaft hatten die beiden sogar verboten, die Frachtraumtür zu öffnen, obwohl der 26-jährige Fahrer mehrmals anrief und bekundete, dass die Insassen großen Lärm machen würden.
Bandenboss: "Können auch sterben"
Der Erstangeklagte gab noch die Anweisung, falls die Migranten sterben sollten, sollten ihre Leichen in Deutschland entsorgt werden. Sein Stellvertreter meinte sogar: "Diese können von ihm aus auch sterben", sagte er laut Anklage. Die meisten erstickten nach eineinhalb, zwei Stunden. Als der Lkw die Grenze zu Österreich passierte, waren alle 71 tot. Der Fahrer stellte den Lkw bei Parndorf ab und flüchtete mit dem Begleitfahrzeug seines Komplizen zurück nach Ungarn. Am nächsten Tag wurde das Fahrzeug mit den Leichen von österreichischen Polizisten entdeckt.
Die Verhandlung wurde unter dem Vorsitz von Richter Janos Jadi geführt. Am 22., 23., 29. und 30. Juni sind weitere Prozesstage geplant, danach wird der weitere Prozessplan fixiert. Ein Urteil soll noch in diesem Jahr gefällt werden.
Die Chronologie des Falles lesen Sie auf Seite 2
A4-Flüchtlingsdrama: Die Chronologie des Falles
Am Gericht von Kecskemet in Ungarn hat am Mittwoch der Prozess gegen eine Schlepperbande begonnen, die für den Erstickungstod von 71 Flüchtlingen verantwortlich sein soll. Die Leichen der Migranten wurden Ende August 2015 in einem an der Ostautobahn (A4) bei Parndorf abgestellten Kühl-Lkw entdeckt. Im Folgenden eine Chronologie des Falles:
27. August 2015
In einer Pannenbucht der A4 bei Parndorf im Burgenland abgestellten Kühl-Lkw werden 71 Leichen gefunden. Die geschleppten Flüchtlinge waren in dem luftdicht abgeschlossenen Laderaum am Vortag auf ungarischem Staatsgebiet erstickt. Unter den Toten sind vier Kinder.
28. August 2015
Die Behörden geben die noch am Vortag erfolgte Festnahme von vier Männern in Ungarn bekannt. Es handelt sich um drei Bulgaren und einen Afghanen mit ungarischer Identitätskarte.
29. August 2015
Die vier Verdächtigen werden in der ungarischen Stadt Kecskemet in Untersuchungshaft genommen. In der folgenden Nacht wird in Ungarn ein fünfter Verdächtiger festgenommen. Es handelt sich um einen weiteren Bulgaren. Unter den Beschuldigten befindet sich der Fahrer des Lkw. Die österreichischen Behörden gehen davon aus, dass Ungarn die Tatverdächtigen ausliefern wird.
4. September 2015
Der damalige Landespolizeidirektor und nunmehrige Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil (SPÖ) gibt bekannt, dass die erstickten Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak und Afghanistan kamen. Außerdem berichtet er, dass es Dutzende Menschen kurze Zeit später gelungen sei, sich in der Nähe von Parndorf aus einem Lkw und einer lebensbedrohlichen Situation zu befreien. Für die Schleppung sei dieselbe Tätergruppe verantwortlich wie im Fall der erstickten Flüchtlinge.
11. September 2015
Die Staatsanwaltschaft Eisenstadt vermeldet unter Berufung auf ein Gutachten, dass die 71 Flüchtlinge mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bereits auf ungarischem Staatsgebiet gestorben sind.
8. Oktober 2015
Die Staatsanwaltschaft Eisenstadt teilt mit, dass sie das Strafverfahren an die ungarischen Behörden abtreten möchte. Diese prüfen den Antrag und stimmen vier Wochen später zu.
26. November 2015
Burgenlands Landespolizeidirektor Doskozil sagt in Eisenstadt, dass 70 der 71 Flüchtlinge identifiziert worden sind. 21 stammten aus Afghanistan, 29 aus dem Irak, 15 aus Syrien und fünf aus dem Iran.
12. Oktober 2016
Die ungarische Polizei vermeldet, dass die Ermittlungen vor dem Abschluss stehen. Acht Beschuldigte befinden sich in U-Haft, gegen drei weitere Verdächtige werden internationale Haftbefehle erlassen.
7. April 2017
Die Polizei in Ungarn berichtet vom Abschluss der Ermittlungen. Die Staatsanwaltschaft hat nun maximal 60 Tage Zeit, um über eine Anklageerhebung zu entscheiden.
4. Mai 2017
Die Oberstaatsanwaltschaft des ungarischen Komitats Bacs-Kiskun gibt bekannt, dass gegen elf Verdächtige aus Afghanistan, Bulgarien und dem Libanon Anklage wegen Mordes und Schlepperei im Rahmen einer kriminellen Vereinigung erhoben wurde. Zehn Beschuldigte befinden sich in Untersuchungshaft, ein Mann ist noch auf der Flucht. Gegen ihn wird in Abwesenheit Anklage erhoben.
18. Mai 2017
Laut Gericht in Kecskemet startet der Prozess am 21. Juni. Verhandelt wird vorläufig auch am 22., 23., 29. und 30. Juni. Dabei sollen die Anklageschriften verlesen und die Beschuldigten befragt werden. Weitere Prozesstermine könnten folgen. Ein Urteil soll bis Ende des Jahres gefällt werden.
21. Juni 2017
Der Prozess gegen die Schlepperbande beginnt am Gericht in Kecskemet. Es herrscht enormes mediales Interesse, mit dem die ungarischen Behörden nicht gerechnet haben. Rund 100 meist internationale Journalisten sind nach Kecskemet gekommen und müssen um die rund 80 Plätze in dem historischen Gerichtssaal kämpfen. Am ersten Verhandlungstag wird mit der Verlesung der Anklageschrift begonnen.