Bei Verlesung der Anklage

A4-Drama: Schlepperboss lacht vor Gericht

21.06.2017

Der 30-Jährige hatte auch gegen seine Dolmetscherin protestiert.

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Nach dem qualvollen Erstickungstod von 71 Flüchtlingen in einem Kühl-Lkw im August 2015 haben sich am Mittwoch elf mutmaßliche Mitglieder einer Schlepperbande vor Gericht in Kecskemet in Ungarn verantworten müssen. Zehn Beschuldigte nahmen zu Prozessbeginn auf der Anklagebank Platz, ein Komplize ist noch auf der Flucht. Gegen ihn wird in Abwesenheit verhandelt.

Nachdem die Flüchtlinge auf der Fahrt nach Westeuropa qualvoll in dem Kühl-Lkw erstickt waren, stellten die Schlepper das Fahrzeug mit den Leichen in einer Pannenbucht an der Ostautobahn (A4) bei Parndorf im Burgenland ab. Der Lkw wurde schlussendlich von österreichischen Polizisten entdeckt. Im Zuge der Ermittlungen wurde die Bande, hauptsächlich Bulgaren, und deren afghanischer Boss festgenommen und in Ungarn angeklagt. Den Beschuldigten wird u. a. qualifizierter Mord und Schlepperei im Rahmen einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen.

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Bandenboss lacht vor Gericht

Der Prozess begann mit etlicher Verspätung. Zunächst fanden nicht alle der 100 angereisten Journalisten in dem heißen Gerichtssaal Platz, wo Sessel für nur rund 80 Zuseher vorgesehen waren. Danach beschwerte sich der Hauptangeklagte, der mutmaßliche Bandenboss, über eine Gerichtsdolmetscherin. Der Afghane spreche Paschtun, die Dolmetscherin nicht, echauffierte er sich. Er akzeptiere die Anklageschrift nicht, weil sie falsch übersetzt werde, sagte der Angeklagte, der zuvor streng bewacht mit einem breiten Lachen den Saal betrat.

In seiner Hand hielt er eine Mappe, auf der u. a. geschrieben stand: "Ich bin ein afghanischer Muslim, weder ein Mörder noch gewalttätig. Ich lüge nicht, Gott ist mein Zeuge", wie Experten für die APA aus dem Paschtun übersetzten. Am ersten Verhandlungstag wurde vom Oberstaatsanwalt des Komitats Bacs-Kiuskun, Gabor Schmidt, die umfangreiche Anklage verlesen. Am morgigen Prozesstag werden die beiden mutmaßlichen Haupttäter, der Afghane und sein Stellvertreter, ein 30-jähriger Bulgare, vor Gericht aussagen. Da sollte der Hauptangeklagte auch einen neuen Dolmetscher bekommen.

Die Bande hat laut Anklage mehr als 1.200 Menschen illegal nach Westeuropa gebracht. Dabei kassierte allein der Bandenchef mehr als 300.000 Euro. Ab Juni 2015 schmuggelte die Gruppe verstärkt Flüchtlinge von Serbien über Ungarn nach Österreich bzw. Deutschland. 31 solcher Fahrten konnte die Staatsanwaltschaft in Ungarn nachweisen.

Gute Kontakte

Der 30-jährige Chef der Bande schloss sich im Frühjahr 2015 der international agierenden kriminellen Organisation an, die illegale Migranten nach Westeuropa, vornämlich nach Österreich und Deutschland brachte. Die Flüchtlinge aus Afghanistan, Syrien und dem Irak kamen zunächst über die West-Balkan-Route, über die Türkei, Griechenland und Serbien zur ungarischen Grenze. In der Gegend von Morahalom-Domaszek angekommen, wurde der 30-Jährige von - bisher nicht identifizierten - Hintermännern informiert, dass er die Flüchtlinge nun nach Westeuropa bringen könne.

Zur Ausführung seiner Vorhaben nahm er einen gleichaltrigen Bulgaren in die Bande auf, der fortan als sein Stellvertreter agierte. Der 30-Jährige hatte gute Kontakte zu Kriminellen in Bulgarien und beschaffte dem Afghanen die Schlepperfahrer. Zudem sprach der Bulgare nicht nur Serbisch, sondern auch Deutsch, was den Kriminellen für die Fahrten nach Österreich und Deutschland nutzte.

100 Flüchtlinge pro Transport

Am Anfang schleppte die Bande 20 bis 40 Migranten pro Auto. Doch aufgrund des hohen Drucks durch die Hintermänner wurden immer öfter Fahrzeuge mit mehr Fassungsvermögen besorgt. Am Ende waren es rund 100 Flüchtlinge, die mit nur einem Transport nach Westeuropa gebracht wurden. Diese Fahrten wurden zur Qual für die Geschleppten, hielt die Staatsanwaltschaft fest.

Eine dieser Schlepperfahrten wurde am 26. August 2015 zur tödlichen Falle. Die Bande kaufte mithilfe eines bulgarisch-libanesischen Staatsbürgers (52) neue Schlepperfahrzeuge. Der Mann hatte zunächst in Österreich gelebt und war 2008 nach Kecskemet gegangen, um dort als Gebrauchtwagenhändler zu arbeiten. Am 18. August 2015 erwarben sie laut Anklage bei einem Händler nahe Kecskemet einen gebrauchten Kühltransporter sowie zwei Mercedes Sprinter und zahlten einen Preis von insgesamt 6.250.000 Forint (rund 20.350 Euro).

71 Menschen qualvoll erstickt

In der Nacht auf 26. August 2015 wurde der Kühl-Lkw erstmals eingesetzt. In einem Waldstück nahe der Grenze bei Morahalom warteten laut Anklage 71 Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak, dem Iran und aus Afghanistan, um in den Westen gebracht zu werden. Ein 26-jähriger Bulgare fuhr den Lastwagen, begleitet von einem 39-jährigen Landsmann, der mit einem eigenen Auto unterwegs war, um die Lage zu sondieren. Die beiden Bandenbosse fungierten als Aufpasser und begleiteten zum Teil den Transport mit ihren eigenen Fahrzeugen. Der 26-jährige Lenker des Lkw erhielt für die Fahrt 3.500 Euro, sein 39-jähriger Komplize 1.500 Euro.

Die 71 Menschen wurden auf eine 14,26 Quadratmeter große Ladefläche gepfercht, die eigentlich für Kühlware gedacht war. Es gab keine Lüftung, keine Fenster, keine Innenbeleuchtung, keine Sitzgelegenheit und keine Haltegriffe, hielt die Staatsanwaltschaft fest. Die Tür des Frachtraums konnte nur von außen geöffnet werden.

Bandenboss: "Können auch sterben"

Bereits nach 40 Minuten machten die Menschen in dem Lkw auf sich aufmerksam, dass sie keine Luft mehr bekommen. Sie hämmerten gegen die Frachtraumwände und schrien lauthals. Die beiden Männer informierten ihre Bandenbosse darüber, doch die beiden gaben die Anweisung, sich nicht um die Insassen zu kümmern, sondern weiterzufahren. Laut Staatsanwaltschaft hatten die beiden sogar verboten, die Frachtraumtür zu öffnen, obwohl der 26-jährige Fahrer mehrmals anrief und bekundete, dass die Insassen großen Lärm machen würden.

Der Erstangeklagte gab noch die Anweisung, falls die Migranten sterben sollten, sollten ihre Leichen in Deutschland entsorgt werden. Sein Stellvertreter meinte sogar: "Diese können von ihm aus auch sterben". Das sagte er laut Anklage. Die Flüchtlinge versuchten noch, Löcher in die Lkw-Wand zu schlagen, doch vergebens. Die meisten erstickten nach eineinhalb, zwei Stunden. Als der Lkw die Grenze zu Österreich passierte, waren alle 71 tot. Der Fahrer stellte den Lkw bei Parndorf ab und flüchtete mit dem Begleitfahrzeug seines Komplizen zurück nach Ungarn. Am nächsten Tag wurde das Fahrzeug mit den Leichen von österreichischen Polizisten entdeckt.

Zahlreiche Verhandlungstage

Obwohl die Schleppung am 26. August 2015 so dramatisch endete, organisierte die Bande nur einen Tag später ohne Skrupel eine weitere Fahrt mit Migranten in einem Kleinlastwagen. Wieder waren 67 Menschen ohne Luftzufuhr eingepfercht. Nur durch viel Glück überlebten sie die Fahrt, weil sie das verrostete Türschloss des Laderaums mit den Füßen mehrmals aufstießen. Der Fahrer dieses Lkw - dabei handelt es sich um den 44-jährigen Bulgaren, der noch auf der Flucht ist - schloss jedoch die Ladetür immer wieder.

Die Verhandlung wurde unter dem Vorsitz von Richter Janos Jadi geführt. Der Prozess wird zahlreiche Verhandlungstage in Anspruch nehmen. In dieser und in der kommenden Woche finden jeweils am Donnerstag und Freitag Termine statt. Danach wird der weitere Prozessplan fixiert. Ein Urteil soll noch in diesem Jahr gefällt werden. Prozessbeobachter glauben jedoch, dass dies nicht der Fall sein wird, darunter der Anwalt des Zweitangeklagten.

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