1. Teil
"Die Wahrheit über mein Leben"
11.12.2006
Im 1. Teil des ÖSTERREICH-Interviews gibt Natascha berührende Einblicke in ihr "neues" Leben. Und sie freut sich auf Weihnachten.
Das Gespräch mit Natascha Kampusch findet in entspannter Atmosphäre statt: Im Fotostudio von Inge Prader, die Natascha zuvor abgelichtet hat. Natascha fühlt sich gut, trinkt und isst - wie von den Ärzten empfohlen - in regelmäßigen Abständen kleine Portionen, um den Kreislauf stabil zu halten. Sie ist konzentriert, überlegt Formulierungen genau. Geistig wirkt sie jeder "normalen" 18-Jährigen mit Matura-Abschluss überlegen, zwischendurch scherzt sie mit ihrem Medienberater Stefan Bachleitner.
Der neue Alltag
Im ersten Teil des Gespräches erklärt Natascha
ihr neues Leben in Freiheit. Und was Weihnachten jetzt – und in
Gefangenschaft – für sie bedeutet (hat).
ÖSTERREICH: Frau Kampusch, wie geht es Ihnen gesundheitlich? Was sind die
kleinen und größeren Probleme, die Sie nach Ihrer Gefangenschaft belasten?
Natascha:
Ich habe einige Probleme mit den Zähnen, die werden derzeit behandelt. Bei
einem Zahn war es wirklich schlimm, laut den Ärzten hätte das sogar
lebensbedrohlich werden können ...
ÖSTERREICH: Was meinen Sie genau damit?
Natascha: Mir ist
in der Gefangenschaft eine Plombe ausgebrochen und es hat sich ein Eiterherd
gebildet. Die Zahnärzte haben sich gewundert, warum ich keine Schmerzen
verspürt habe. Und meine Zähne ansonsten in einem relativ guten Zustand
sind. Aber ich habe in der Gefangenschaft nach jeder Mahlzeit die Zähne
geputzt und Zahnseide verwendet.
ÖSTERREICH: Sie hatten in der Gefangenschaft Zahnweh?
Natascha:
Die Sache mit der Plombe hat weh getan, aber es kommt auf die Einstellung
an, wie man mit Schmerzen fertig wird. Man kann Punkte im Gesicht drücken
und Atemübungen machen. Entzündungen, wie diese, kann man so natürlich nicht
bekämpfen.
ÖSTERREICH: Sie haben in den ersten Interviews nach Ihrer Flucht auch von
Herzproblemen gesprochen. Haben Sie die noch?
Natascha: Mein Herz
ist gesund, mir macht jetzt eher der Kreislauf zu schaffen. Mein Internist
meint, ich muss alle zwei Stunden etwas essen, das ist ganz wichtig, um den
Blutdruck stabil zu halten. Ich esse also fleißig Müsliriegel und ähnliche
Dinge.
ÖSTERREICH: Sie haben vorhin erwähnt, dass Sie auch Schmerzen in den
Beinen haben?
Natascha: Ja, ich verstauche mir permanent meine
Knöchel, obwohl ich flache Schuhe trage. Das strahlt dann über das ganze
Bein aus und ich komme manchmal damit kaum aus dem Bett.
ÖSTERREICH: Wie kann man sich einen "normalen" Tag bei Ihnen
vorstellen?
Natascha: An normalen Tagen werde ich permanent
fotografiert. Nein, Scherz. Also ich wache ohne Wecker so gegen sechs Uhr
früh auf, und dann richte ich alles für meinen Tag her. Meistens habe ich
drei bis vier Termine, die viel Zeit in Anspruch nehmen, also auch
Arzttermine. Ich fahre mit der U-Bahn, ich gehe einkaufen, was ich brauche.
Gegen 20 oder 21 Uhr komme ich nach Hause und kümmere mich um meinen kleinen
Haushalt. Sauber machen und solche Dinge.
ÖSTERREICH: Sehen Sie fern?
Natascha: Derzeit nur ORF.
Info-Sendungen, aber auch Filme. Und in der Früh als Berieselung
Zeichentrickfilme. Ansonsten höre ich lieber Radio, Ö1, FM4 und Ö3.
ÖSTERREICH: Kann man sagen, Sie wohnen alleine und sind für Ihr Leben
selbst verantwortlich?
Natascha: Ja, aber ich werde betreut. Den
Tagesablauf bestimmt mein Terminkalender, aber im Großen und Ganzen bestimme
ich. Ich versuche jetzt den Leuten in meinem Umfeld, die es zwar gut mit mir
meinen, aber manchmal doch etwas überfürsorglich sind, beizubringen, dass
ich mehr Freiraum brauche. Ich schalte einfach das Handy ab. Und ich
versuche die Gespräche, die mit mir geführt werden, zu reduzieren, weil mir
das einfach zu viel ist. Das habe ich anfangs nicht zugegeben, mir immer
höflich alles angehört, und dann ist mir davon schlecht geworden.
ÖSTERREICH: Wie ist der Kontakt zu ihren Eltern?
Natascha:
Das Verhältnis zu meinen Eltern ist gut. Ich verbringe ab und an das
Wochenende mit meiner Mutter, dann gehen wir zusammen einkaufen, für die
ganze Woche. Ich kaufe gerne ein.
ÖSTERREICH: Was kaufen Sie?
Natascha: Naja, Lebensmittel,
Reinigungsmittel und so, aber meiner Mutter ist das oft nicht so recht.
Jedes Mal, wenn ich ein antistatisches Staubtuch kaufe, sagt sie, das
braucht kein Mensch. Aber ich bezahle, also ist das auch meine persönliche
Entscheidung. Manchmal sind wir eben doch noch in dieser
Mutter-Kind-Situation drinnen.
ÖSTERREICH: Haben Sie eigenes Geld zur Verfügung?
Natascha:
Ja. Aber ich kaufe mir relativ wenig. Kleidungsstücke pflege ich sehr. Ich
gehe sehr sorgsam mit meinen Sachen um und möchte, dass sie 50 Jahre lang
halten. Mein Spruch lautet: Qualität vor Quantität.
ÖSTERREICH: Haben Sie guten Kontakt zu Ihrem Vater?
Natascha:
Ja, wir machen Tagesausflüge, ich übernachte auch bei ihm und seiner Frau.
Derzeit ist unsere Familiensituation durch den ganzen Medienrummel aber
natürlich etwas gespannt. Am schlimmsten war, dass meiner Schwester Claudia,
der ich sehr verbunden bin, vorgeworfen wurde, dass sie Kinderfotos von mir
geschossen hätte, die irgendwie bedenklich sein sollen.
ÖSTERREICH: Sie meinen, dass diese Fotos, die Sie als Kind in
Reiterstiefeln und mit einer Federboa um den Hals zeigen, missverstanden
wurden?
Natascha: Das weiß ich sicher, ich kann mich nämlich noch
erinnern, wie sie geschossen wurden. Es sind normale Fotos, wie sie jeder
daheim hat. Meine Schwester war damals oft reiten, sie ist heim gekommen,
hat die Stiefel ausgezogen, ich bin aus der Dusche gekommen und bin
hineingeschlüpft. Mit der Federboa habe ich immer gespielt, die hatte ich
irrsinnig gerne, sie war so flauschig wie unsere Katzen. Ja, und da haben
wir eben fotografiert. Für meine Schwester sind diese üblen Gerüchte jetzt äußerst
belastend. Dabei verbindet mich gerade mit ihr sehr viel. Sie ist zwar 18
Jahre älter, aber es ist trotzdem fast so, als ob wir Zwillingsschwestern
wären. Wir haben die gleichen Gedanken, das ist erstaunlich, obwohl wir
jetzt acht Jahre getrennt waren.
ÖSTERREICH: Frau Kampusch, sprechen Sie mit Ihren Eltern oder Ihrer
Schwester über die Zeit Ihrer Gefangenschaft? Oder wird das Thema
ausgeklammert?
Natascha: Teilweise. Meine Eltern respektieren, wenn
ich nicht darüber sprechen möchte, sie drängen mich nicht, sie sind auch
nicht sonderlich neugierig. Vieles möchte ich ihnen eigentlich auch
ersparen. Das sollten Eltern nicht wissen. Aber es ist kein unangenehmes
Schweigen zwischen uns.
ÖSTERREICH: Was sagen Sie zu dem Gerücht, dass Ihre Mutter Ihren
Entführer gekannt haben soll?
Natascha: Das ist an den Haaren
herbeigezogen. Er selbst (Anmerk.: Wolfgang Priklopil) hat sich auch
teilweise darüber lustig gemacht, dass so was behauptet wird. Und meine
Mutter hat mir glaubhaft versichert, dass es nicht so ist.
ÖSTERREICH: Zu Weihnachten wird bei Ihnen die ganze Familie zusammen
sein?
Natascha: Ja, es ist für uns das erste Weihnachten zusammen.
Meine Eltern waren ja getrennt, da haben wir früher Weihnachten nicht
zusammen verbracht. Aber es war immer schön, ich habe das Fest als Kind am
25. 12. immer bei meiner jetzt verstorbenen Oma verbracht. Da gab es einen
Christbaum und noch einmal Geschenke, und Rotkraut und Kartoffelknödel. Und
ja, diesmal werden wir einmal alle zusammen sein.
ÖSTERREICH: Werden Sie in Ihrer Wohnung feiern?
Natascha:
Dazu ist die viel zu eng. Wir sind ja mittlerweile eine Großfamilie, 14
Leute mit der Frau meines Vaters. Es wird uns schon ein passender Ort
einfallen.
ÖSTERREICH: Und es gibt heuer einen großen Baum?
Natascha:
Ich weiß nicht, ob Plastik-Christbäume nicht die bessere Variante
sind. Ich habe ursprünglich ja vorgehabt, Weihnachten mit zu organisieren,
aber meine Familie wollte mich nicht belasten und das wird mir jetzt aus der
Hand genommen. Hoffentlich komme ich noch dazu, Kekse zu backen. Ich glaube,
das kann ich ganz gut.
ÖSTERREICH: Haben Sie während ihrer Gefangenschaft Weihnachten
gefeiert?
Natascha: Ja, ich habe auf das Weihnachtsfest bestanden.
Nicht auf die Geschenke. Dadurch, dass ich dort unten kein Fenster hatte und
von den Jahreszeiten nichts mitbekam, habe ich mir selbst Dekorationen
gebastelt, für Ostern, Weihnachten usw. Ich wollte mir ein bisschen
Tradition bewahren, etwas zur Identifikation haben.
ÖSTERREICH: Was steht heuer auf Ihrer Weihnachtsliste?
Natascha:
Nichts, wir werden uns heuer nichts schenken, wir wollen uns auf den
Ur-Gedanken besinnen, dass wir uns einfach wieder haben. Ein Fest der Liebe.
Aber ich werde den anderen vielleicht doch etwas schenken, etwas
Kreatives,Selbstgemachtes .