Eine junge Frau berichtet von ihrem Leben als Erdogan-Gegnerin in der Türkei.
Seit dem Putschversuch in der Türkei ist nichts wie es vorher war. Die politischen Beziehungen zwischen dem Westen und dem Land im Osten sind äußerst angespannt. Für Erdogan scheint der Fall klar zu sein: Fethullah Gülen ist jener Mann, der hinter dem Putschversuch steckt. Der in den USA im Exil lebende Prediger, der als Anführer der gleichnamigen Bewegung gilt, will die Macht Erdogans schmälern, heißt es. Gülen selbst bestreitet Verwicklungen in die Angelegenheit. Eine Fehde zweier Bewegungen, die das Leben ihrer Anhänger in der Türkei und im Rest der Welt mittlerweile bestimmt und langsam aber sicher aus dem Ruder laufen lässt.
Eine dieser Menschen ist Derya S. (Name von der Redaktion geändert). Sie meldete sich bei oe24, damit sie über ihre Erfahrungen als Gülen-Anhängerin in und außerhalb der Türkei sprechen kann. Mit 17 Jahren kam die heute 30-Jährige nach Österreich. Sie besuchte die Handelsakademie, studierte und arbeitete als Wirtschaftsingenieurin. Anschließend zog sie auf Wunsch ihrer Familie wieder in die Türkei zurück. Als die Gülen-Bewegung 2013 endgültig mit Erdogan bricht, beginnt für sie eine Tortur, wie sie erzählt. „Dann wirst du eben gemobbt. Dir wird vorgeworfen ‚Du bist ein Terrorist‘ oder ‚Du willst die Türkei runterkriegen‘ oder irgendwie so. Und man kann sich auch nicht wehren. Wenn man was dagegen sagen will, wird man als Terrorist beschimpft“, erklärt Derya gegenüber oe24. Wie sie weiter erzählt, wurden ihr auch im Berufsleben Steine in den Weg gelegt. Bei vielen Bewerbungsgesprächen sei sie gefragt worden, ob sie der Regierungspartei AKP angehöre. Da sich das Leben in ihrer Heimat zunehmend schwierig gestaltete und ihr Mann, ein Russe, zudem auch noch sein Visum verlor, flohen sie kurz vor dem Putschversuch nach Europa.
Spurlos verschwunden
Wie der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim letzte Woche in einem Fernsehinterview gesagt hatte, sind im Zuge der Ermittlungen zum Putschversuch 20.355 Verdächtige in Untersuchungshaft behalten worden. Darunter seien Polizisten, Soldaten, Mitarbeiter des Justizapparats und von Verwaltungen sowie Zivilisten. Fast 80.000 Beschäftigte des öffentlichen Dienstes seien suspendiert. Yildirim kündigte an, dass die "Säuberungskampagne" gegen Anhänger Gülens im öffentlichen Dienst weiter gehen werde. Vor allem Gelehrte sind von diesen Aktionen betroffen. Rechtlich gerechtfertigt werden die Festnahmen mit dem Verdacht auf Terrorismus. Die Gülen-Bewegung wurde von der Regierung mittlerweile zur Terrororganisation erklärt.
Festgenommen wurde Derya zwar nicht, jedoch ist sie dennoch indirekt betroffen. Wie sie erzählt, sei eine enge Freundin von ihr, Frau Kozan von der türkischen Polizei auf Verdacht festgenommen worden sein. „Das stimmt nicht. Das stimmt aber nicht. Sie ist kein Terrorist und schon gar nicht gegen ihr Land. Sie hat sich sehr viel Mühe gegeben damit die Menschen studieren und nicht dumm bleiben“, erklärt Derya. Die beiden hatten in Anatolien in Form von Kursen versucht, den Menschen Wissen zu vermitteln. Von Frau Kozan fehle derzeit jede Spur. Derya erhebt schwere Vorwürfe. Sie wisse wie das Erdogan-Regime vorgehe. „Die Angeklagten warten teilweise Jahre auf ihren Prozess“, meint sie. Dass an den Vorwürfen Erdogans gegen die Bewegung etwas daran sein könnte, glaubt sie nicht. „Das ist ein Vorwand, den Erdogan brauchte, um diese Hexenjagd zu starten“, meint die 30-Jährige.
„Das ist Völkermord“
Das harte Durchgreifen der Erdogan-Regierung gegen vermeintliche Putschisten, hat vor allem im Westen für Aufsehen gesorgt. Seit Wochen ist die Stimmung zwischen der Türkei und Österreich äußerst angespannt. Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) und Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) liefern sich wahre Duelle mit türkischen Kollegen. Der innerpolitische Konflikt der Türkei, wird zur Zerreißprobe für internationale Beziehungen und nicht nur das. Die entschiedene Erdogan-Gegnerin ist der Meinung, dass türkische Vereine in Österreich als Propagandamittel für den türkischen Präsidenten agieren. „Sie erhalten Order aus Istanbul. Sie müssen genau das lesen und sagen, was ihnen vorgeschrieben wird“, erzählt sie bestimmt. Tatsächlich waren zuletzt türkische Vereine in Österreich ins Visier der Medien geraten. Nach Demonstrationen gegen den Putschversuch in Wien unterstützten bekannte Vereine den Präsidenten Recep Erdogan in seinen Ansichten und seinem Vorgehen. Allerdings distanzierten sie sich von jeder Form der Gewalt.
Ausschreitungen zuletzt bei der Kurden-Demo am Wiener Stephansplatz schürten die kritischen Stimmen, die eine Eskalation auch außerhalb der Türkei für möglich halten. Dieser Meinung ist auch Derya. Sie glaubt, dass der Konflikt zwischen Türken und Kurden auch in Österreich eskalieren kann. „Das nenne ich Völkermord, das was mit den Kurden in der Türkei passiert. Türken und Kurden werden, genauso wie dort, auch in Europa diesen Konflikt öffentlich austragen“, warnt sie.
Propaganda-Maschinerien im Ausland
Die meisten Konflikte werden allerdings bereits öffentlich ausgetragen, wenn auch nicht körperlich. Die Propaganda-Maschinerie beider Seiten wird vor allem außerhalb der Türkei vorangetrieben. Besonders in der EU liefern sich Anhänger aller Protagonisten über herkömmliche Medien oder Sozialen Netzwerke wilde Wortgefechte, die die Stimmung noch mehr aufheizen. Das weiß auch die heimische Politik und beobachtet die Entwicklungen genau.
Auch Derya beobachtet die Geschehnisse in ihrer Heimat genau. Die Welt solle ihre Geschichte kennen. Die Menschen sollten wissen, wie sie ihr Leben in der Türkei wahrgenommen hat. Ein Leben mit dem sie nun aktiv nicht mehr viel zu tun hat. Mittlerweile lebt sie mit ihrer Familie in einem kleinen Dorf in Thüringen. Angst vor Verfolgung muss sie dort nicht mehr haben. Allerdings kann man das von ihrer Freundin Frau Kozan nicht behaupten. Von ihr fehlt bis heute ein Lebenszeichen.