Wien
Missbrauch wurde 40 Jahre vertuscht
19.10.2011
Alle Fakten waren gesammelt, doch sie wurden vertuscht.
Es vergeht kein Tag, ohne dass neue erschütternde Schilderungen ehemaliger Zöglinge des Kinderheims Wilhelminenberg bekannt werden. Beim Opferschutz Weißer Ring melden sich täglich 40 Menschen. In ÖSTERREICH spricht nun Marianne Kogler. Sie war in den 1960er-Jahren Heimkind, erzählt von Vergewaltigungen und Gewalt: „Ich dachte, das sei normal“ (s. rechts).
Studie bewies Missstände. Die Leiden der Kinder hätten vor 40 Jahren gestoppt werden können. 1972 wurde die spätere SPÖ-Abgeordnete Irmtraut Karlsson beauftragt, die Studie Verwaltete Kinder zu erstellen. Ihr Ergebnis war erschütternd: In 14 Heimen wurden Kinder tagtäglich brutal misshandelt (s. links).
Doch diese Studie wurde von der Stadt Wien unter den Tisch gekehrt. Und Karlssons Beamtenkarriere ging zu Ende. Eine Chronologie des Horrorheims:
- 1781: Das Schloss wird als Adelssitz gebaut.
- 1945: Haus wird zu einem städtischen Kinderheim.
- 1948 kommt Susanne Hacker (damals 6, Name geändert) ins Heim. Sie schilderte in ÖSTERREICH ihr Martyrium: 8 Jahre lang Vergewaltigungen und Gewalt.
- 1948 wird auch eine weitere Frau, die ungenannt bleiben will, ins Heim gebracht. Sie erzählt: Es sollen Kinder in Folge der Misshandlungen zu Tode gekommen sein.
- 1960er-Jahre: Marianne Kogler (Interview rechts) erlebt das Grauen.
- 1970er-Jahre: Schwere Gewalt und Serienvergewaltigungen – davon berichten nun u. a. die Opfer Eva L. (damals 8 Jahre alt) und Julia K. (damals 6).
- 1972: Irmtraut Karlsson wird mit der Studie Verwaltete Kinder beauftragt. Ergebnis wird vertuscht.
- Ab den 1980er-Jahren versucht das Opfer Susanne Hacker, die Behörden zu informieren. Sie wird „Lügnerin“ genannt.
- Am 1. Juli 1986 wird das Haus zum Hotel. Das Kinderheim wird geschlossen.
- 2010 findet das erste Verfahren gegen eine Pflegerin statt. Es wird eingestellt – wegen Verjährung.
- 6. Dezember 2010: Erster Kontakt der Opfer Eva L. (49) und Julia K. (47) mit dem Weißen Ring.
- Juni 2011: Opfer Eva L., Julia K. und Susanne Hacker erhalten Entschädigungen der Stadt (bis 35.000 Euro).
- 22. September 2011: Drei Personen, die in 1970er-Jahren im Heim gearbeitet haben, werden einvernommen.
- 21. Oktober 2011: Eine Kommission zur Aufarbeitung der Vorgänge soll eingerichtet werden.
Irmtraut Karlsson (SPÖ) deckte auf
ÖSTERREICH: Frau Karlsson, Sie haben vor 40 Jahren eine Studie über die Wiener Heime erstellt und sind zu erschütternden Ergebnissen gekommen …
Irmtraut Karlsson: Als Beamtin der Stadt Wien habe ich mit Studenten die Zustände in 34 Wiener Heimen untersucht. 14 dieser Heime waren regelrechte Kindergefängnisse. Die Stimmung war erdrückend. Die Kinder durften 24 Stunden nicht das Heim verlassen. Durch diese Geschlossenheit drang auch nichts nach außen. Es passierten täglich Demütigungsrituale, die Intimsphäre der Kinder wurde zerstört. Was mich schockierte, war, dass das Personal kein Unrechtsbewusstsein hatte und uns ungeniert die Zustände zeigte.
ÖSTERREICH: Was haben Sie konkret an seelischen Misshandlungen herausfinden können?
Karlsson: Gewaltübergriffe hat es vor unseren Augen nicht gegeben – das hätten uns die Pfleger natürlich nie gezeigt. Aber die Kinder durften nicht alleine aufs Klo gehen. In den Schlafsälen gab es in der Mitte des Raumes immer zwei Betten. Hier mussten die Bettnässer übernachten und wurden so vor allen Kindern gedemütigt. Beim Essen durften die Kinder nicht sprechen.
ÖSTERREICH: Sie haben die Ergebnisse der Stadt Wien vorgelegt. Und was passierte dann?
Karlsson: Die MA 11 verlangte damals, dass die Namen aus dem Bericht gestrichen werden und gegen Nummerncodes ersetzt werden. Auch in den Text wurde eingegriffen. Bei einigen Stellen wurde verlangt, dass wir sie umformulieren sollen.
ÖSTERREICH: Hat die Stadt Wien es vertuscht?
Karlsson: Ich habe gehofft, dass die schlimmsten Heime geschlossen werden. Wir kämpften darum, denn wir hatten uns den Reformen verschrieben. Doch die Trägheit des Systems habe ich unterschätzt. Mit dieser Studie war auch meine Karriere als Beamtin in Wien beendet. So fand ich den Weg in die Politik, und das war besser für mich.