So meistern sie das Schicksal

Julias Eltern: Sie hofften 1.830 Tage

01.07.2011

Sie waren eine ganz normale Familie. Bis eines Tages ihre Tochter nicht mehr heimkam.

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Sie gingen in den letzten fünf Jahren durch die Hölle, erlebten das Schlimmste, was Eltern passieren kann. Die Tochter verschwindet von einer Minute auf die andere – und taucht nie mehr auf. Die Ungewissheit legte sich schwer wie ein Schatten über die bürgerliche, sehr gläubige Lehrerfamilie Kührer. In ihr schmuckes Häuschen in der Ufergasse in Pulkau zogen Trauer und Angst ein. Es folgen mehr als 1.830 Tage zwischen Hoffen und Bangen.

Als Brigitte und Anton Kührer am 27. Juni 2006 bemerkten, dass ihre einzige Tochter Julia von der Schule nicht nach Hause gekommen war, fühlten sie zunächst eines: Ärger. Ärger über die Unpünktlichkeit eines Teenager-Mädchens, das sich die Haare färbt, ein Tattoo stechen lässt und vielleicht auch mal die Schule schwänzt. Dass sich daraus das größte Kriminalrätsel der letzten Jahre entwickelt, wusste die Familie da noch nicht. „Irgendwann muss man sich natürlich mit allen Möglichkeiten anfreunden, sonst wird man verrückt“, so Julias Mutter Brigitte Kührer in einem der vielen ÖSTERREICH-Interviews.

Dennoch war und ist der innere Zusammenhalt der Familie bewundernswert. Die Familie hilft sich mit Ritualen gegen den Wahnsinn. „Wir haben jedes Mal zu ihrem Geburtstag ein Geschenk für sie auf ihr Zimmer gelegt, etwas, das ihr Freude gemacht hat“, sagt Brigitte Kührer. Sie arbeitet weiter als Lehrerin, um sich abzulenken und seelisch aufzubauen. Auch die beiden Söhne, Stefan und Florian, helfen. Stefan richtet eine Internet-Seite ein, sucht nach der Schwester. Es folgen Wochen der Verzweiflung, Tage der Hoffnung. Das alles schweißt die Familie noch stärker zusammen. Dennoch gibt es immer wieder Rückschläge. „An Weihnachten, an ihrem Geburtstag, am Tag ihres Verschwindens. Ich weiß zwar, der Glaube gibt mir Kraft und das spüre ich auch, aber manchmal ist es unvorstellbar schwer.“

„Wollte nicht verpassen, wenn sie anruft“

Seit fünf Jahren hat Brigitte Kührer ihre Handynummer nicht gewechselt, jeder Anruf, der sie erreicht, wird beantwortet, denn: „Wenn sie es gerade in dem Moment probiert, will ich es nicht verpassen.“ Das Damoklesschwert über der Familie war aber nicht nur die Anspannung, die man mit Normalität bezwingen musste, es war vor allem die Ungewissheit. Nicht zu wissen, ob das eigene Kind, die einzige Tochter, die einzige Schwester tot ist oder nicht.

Mutter: "Ich weiß, dass Julia ihm vertraute"

ÖSTERREICH: Frau Kührer, nach fünf Jahren könnte sich das Rätsel um Julias Verschwinden nun doch lösen. Können Sie beschreiben, wie es Ihnen derzeit geht?
Brigitte Kührer: Ich bin sehr hin- und hergerissen, wie in einer riesigen Zwickmühle. Weil ich natürlich gar nichts weiß und solange das alles nicht sicher ist und ich nicht weiß, dass diese Leiche wirklich unsere Julia ist, kann ich dazu gar nichts sagen. Und das möchte ich auch nicht.

ÖSTERREICH: Sie wurden schon öfter enttäuscht von Ermittlungen, erst im letzten Jahr gab es Hausdurchsuchungen, die ein Schlag ins Wasser waren. Sie vertrauen aber der Polizei nach wie vor, oder?
Kührer: Das Bundeskriminalamt und auch die Beamten von Niederösterreich waren immer für uns da und haben sich in all der Zeit wirklich mehr, als man sich vorstellen kann, um den Fall gekümmert. Sie sind immer jedem Hinweis nachgegangen und haben uns immer informiert. Ich vertraue ihnen auf ganzer Linie.

ÖSTERREICH: Fünf Jahre ist es nun her, dass Julia verschwunden ist. Das Bundeskriminalamt hat sich die Zähne daran ausgebissen, eine Cold-Case-Gruppe wurde gegründet – dennoch fehlen ein paar Minuten in der Chronologie. Weiß jemand doch noch etwas, was den Fall klären könnte?
Kührer: Ich bin mir sicher, dass jemand von Julias Freunden oder den Menschen in ihrem Umfeld sich vielleicht bis jetzt nicht getraut hat, zu sprechen. Deshalb war ich auch froh, dass es eine Prämie für den entscheidenden Hinweis gibt. Ich hoffe, dass sich nun ein paar Rätsel lösen.

ÖSTERREICH: Sie kennen Ihre Tochter besser als sonst jemand auf der Welt. Wäre Sie mit jemanden mitgegangen, den sie gar nicht kannte? Könnte sie entführt worden sein?
Kührer: Natürlich könnte sie entführt worden sein. Aber Julia war ein extrem vorsichtiger Mensch. Sie brauchte sehr lange, um Vertrauen zu jemanden aufzubauen und sich zu öffnen. Und sie hat gewusst, wenn Situationen für sie gefährlich werden könnten. Ich denke, dass sie sich vielleicht jemandem anvertraut hat, der nicht gut war für sie, und das hat sie zuerst so nicht einschätzen können.

ÖSTERREICH: Sie erleben als Familie Geburtstage von Julia, es sind schon fünf. Wie gehen Sie mit dieser Ungewissheit um?
Kührer: Wir sind in der Familie sehr zusammengewachsen, haben uns durch das Verschwinden von Julia gegenseitig gestärkt und versuchen ein normales Leben zu führen. So weit uns das eben möglich ist.

ÖSTERREICH: Rechneten Sie auch mit dem Schlimmsten?
Kührer: Man muss natürlich realistisch sein und daher war uns immer auch die Möglichkeit bewusst, dass Julia vielleicht nicht mehr lebt. Aber: So lange man die Leiche meiner Tochter nicht findet, lebt sie für mich. So habe ich das gesehen und meine Familie auch.

ÖSTERREICH: Sie haben Julia zu ihren Geburtstagen auch kleine Geschenke gemacht. Warum?
Kührer: Weil sie meine Tochter ist und weil wir als Familie, solange wir nichts anderes wissen, ihre Feste auch feiern wollten.

ÖSTERREICH: Wie haben Sie das gemacht?
Kührer: Wir haben ihr ein Geschenk gemacht. Aber wie wir gefeiert haben, das ist unsere Privatsache. (Teile des Interviews wurden nicht aktuell, sondern bereits vor dem Fund geführt.)

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