Sensation
Kampusch: Video-Protokolle aus dem Verlies
20.03.2016
Die Abschriften der Videos widerlegen alle Verschwörungstheorien.
Sensation im Fall Natascha Kampusch: Offenbar hat Entführer Wolfgang Priklopil umfangreiche Videos im Verlies, in dem er Kampusch 3096 Tage gefangen hielt, gedreht. Der Kriminalbeamte Peter Reichard hat ein minutiöses Protokoll über die Entführung und die Jahre im Verlies geschrieben und ist dabei auf die Videos gestoßen, berichtet die "Welt". Es ist ein Zeugnis "der grausamen Psyche (Priklopils) und zugleich der intuitiven Kraft seines Opfers, das ihn am Ende bezwang", schreibt die "Welt".
Obwohl das Video-Material streng unter Verschluss ist, wird es jetzt öffentlich – mit dem Wissen und der Erlaubnis von Natascha Kampusch. Die Inhalte bestätigen das, was Kampusch immer gesagt hat und widerlegen alle Verschwörungstheoretiker: alle Gerüchte über Komplizen und sexuellen Missbrauch sind demnach nichts als Phantasie.
Nataschas Entführer: Wolfgang Priklopil
Das sieht man auf den Videos
Bei den Videos soll es sich um Aufnahmen von Weihnachten, Ostern und Geburtstagen handeln. Sie zeigen den autoritären Umgang Priklopils mit seiner „Sklavin“, der sie die Treppen rauf- und runterscheucht und bis zur Erschöpfung trainieren lässt. Der Entführer bezeichnet Kampusch in den Videos demnach als „fett“ und sagt immer wieder zu ihr: „Demütig gehorchen. Immer lieb sein. Immer lieb gehorchen. Demütig sein.“
Kampusch wurde in diesem Zweikampf immer mehr vom willenlosen Opfer zum stärkeren Part, schreibt „Welt“-Chefredakteur Stefan Aust im Vorwort des Buches, das am 21. März 2016 im Riva Verlag erscheint.
"Es sei nichts Belastendes darauf zu sehen gewesen", lautet der Befund der Staatsanwaltschaft. Fix montierte Kameras sollen mitgefilmt haben, falls sich eine Kamera doch bewegt habe, so sei Priklopil derjenige gewesen, der sie geführt habe.
Keine Gespräche
Auch Gespräche führen die beiden nicht wirklich miteinander. Es werden eher Alltagssituationen kommentiert - Priklopil macht Natascha Vorwürfe, die sie zu widerlegen versucht. So reinigt Natascha Kampusch in einem Video etwa das Gitter des Backofens.
Priklopil kommentiert: Do hot nix plopp g'macht. Du hast's so ong'füllt, weilst total gierig bist, no a Marüll'n geht eine und no ane.
Kampusch: Nein, es ist nicht wahr, ist nicht wahr. Es ist nicht angefüllt. Sie schiebt den sauberen Rost wieder in das Backrohr.
Priklopil: Und no a Stang'l Rhabarber, und nochstopf'n. Und des kennt' man no nochstopf'n.
Kampusch: Das ist nicht angefüllt.
Priklopil: Und dann ist natürlich klar, doss olls überkocht.
Kampusch öffnet daraufhin einen Plastikbecher und inspiziert dessen Deckel. Es ist nicht angefüllt, allerdings, der Kuchen ist da verformt. Der Deckel is da runtergangen.
In einer weiteren Szene richtet die elfjährige Natascha das Frühstück her. Das damals fast übergewichtige Mädchen ist mittlerweile spindeldürr und nur mit einem Hemdchen bekleidet. Wieder ist ihr Entführer unzufrieden: "Stell den Teller ordentlich ab. Abspülen! Die Eier!", beordert er sie. Obwohl sie Schnupfen hat verwehrt er ihr ein Taschentuch: "Stopf die Nosn mit den Fingern zua. Rechts eine, links ausse."
Dann isst sie einen Teller mit Milch und Joghurt, die Körner, die sie dazu bekommt, sind abgezählt. Natascha beginnt zu reden, doch ihr Entführer unterbricht sie: "Red net so vül beim Essen. Das Essen muss man essen."
Unterricht und Hausarbeit
Priklopil unterrichtete Natascha zu Hause. Doch seine gebieterische Strenge war alles andere als fair. In den Videos kann man erkennen, dass er auch "Fehler" in Rot anstrich, die keine waren. Trotzdem schlugen diese sich negativ bei der Benotung nieder.
In einer weiteren Szene sitzt der Entführer am Küchentisch und blättert in einer Zeitung, ohne sie zu lesen. Immer wieder beobachtet er, ob Natascha die Hausarbeit auch richtig erledigt. Dann sieht er die Werbung durch und kommentiert die angebliche Tollpatschigkeit des Mädchens. Darüber hinaus beklagt er sich darüber, dass seine Kamera nur noch die Aufnahmekapazität einer Viertelstunde habe. Diese müsse jedoch zwanghaft bis zur letzten Sekunde ausgefüllt werden.
Professionelle Distanziertheit
Die Filmdokumente belegen vor allem, dass Priklopil nur eingriff, wenn es seiner Meinung nach notwendig war. Ähnlich einem leicht gereizten Krankenpfleger agierte er in jeder Situation mit professioneller Distanziertheit.
Erstaunlich ist, dass Natascha Kampusch trotz ihres jungen Alters den Machtspielen ihres Entführers mit Trotzigkeit und intelligent formulierten Argumenten entgegentrat. Gegen aufbrausende Worte Priklopils setzte sie künstlichen Singsang, um seine Verbalattacken zu perforieren und ihn auf andere Gedanken zu bringen.
Feiertage
Feiertage wie in etwa Geburtstage, Weihnachten oder Ostern waren für Priklopil von großer Bedeutung. Schon im Vorfeld wurden sie zelebriert, angefangen davon, dass Natascha um Geschenkpapier, Stifte oder Wasserfarben bettelte. Ihr "gnädiger" Entführer besorgte ihr daraufhin vorwiegend weißes Papier, das sie bemalte.
Darin wickelte sie Basteleien für Priklopil und auch Geschenke, die sie erhalten hatte, ein. Da Priklopil diese Tätigkeit nicht permanent überwachen wollte, aber dennoch seine Kontrollfunktion demonstieren wollte, kam er ab und zu in ihr Verlies.
Bei der Überreichung der Geschenke jubelte Natascha immer wieder voll vorgetäuschter Freude: "Ein Englischbuch! Oh, da kann ich Vokabeln abschreiben!" oder "Das ist ein Schokohase!", jubelt sie auf den Videos.
Nach der Selbstbefreiung
Als Natascha Kampusch sich schließlich selbst befreien konnte, kommentierte sie das Erlebte folgendermaßen: "Es ist ja so, dass sich jeder Wellensittich damit arrangiert, dass er in einem Käfig lebt und regelmäßig Körnchen bekommt und Wasser. Dann singt er auch wieder so, wie er es früher aus seiner Heimat oder dort, wo er gezüchtet wurde, gewohnt war."