Das schreibt der frühere Brieffreund von E. dem Inzestopfer im ÖSTERREICH vom Sonntag. Im Interview erzählt er, wie sie damals war.
Freitag vor Pfingsten. Ein warmer Frühsommertag, der erste richtige in diesem Jahr. Die Menschen drängen ins Freie, sitzen in Gastgärten und Parks und alle haben sie nur ein Thema: E., die Mutter aus dem Verlies. Die Frau, die derzeit ganz Österreich bewegt.
24 Jahre lang wurde sie von ihrem Vater in Amstetten in ein Kellerverlies gesperrt. Sie brachte sieben Kinder auf die Welt, eines starb, eines liegt im Koma. Mit fünf Kindern lebt E. . derzeit im Krankenhaus Amstetten-Mauer, wird psychologisch betreut, auf ein normales Leben vorbereitet, falls es so etwas für sie überhaupt geben kann.
Ich sitze in einem Kaffeehaus in Niederösterreich, mir gegenüber hat ein Mann mittleren Alters Platz genommen, nennen wir ihn Ernst. Er beugt sich über Briefe, die er als 18-Jähriger erhalten hat, vor 24 Jahren. Damals pflegte er eine Brieffreundschaft zu einer jungen Frau, die seit ihrem elften Lebensjahr ein dunkles Geheimnis in sich trug. Ein Geheimnis, von dem Ernst damals nichts ahnte.
„Wir gingen in die gleiche Schule. Ich machte die Ausbildung zum Koch, die Sissy wollte Kellnerin werden“, erzählt er. „Wir waren in unterschiedlichen Klassen, aber wir hatten denselben Freundeskreis. Man traf sich nach der Schule, ging in die Disco tanzen ...“
„Wie eng war die Beziehung?“, frage ich. „Wir waren Freunde, nicht mehr. Aber wer weiß, wenn sie nicht verschwunden wäre, hätte mehr daraus werden können.“
Meine E.
Ernst wirkt nervös, immer wieder fährt er sich durchs
Haar. Er weiß nicht genau, was er erzählen soll und was Geheimnis bleiben
soll. Zwei Wochen lang hat er sich mit dieser Frage gequält. Schweigen?
Reden? Dann entschloss er sich, an die Öffentlichkeit zu gehen. „Ich hatte
viele schlaflose Nächte“, sagt er. „Aber ich habe in den Medien immer nur
über das Opfer E. gelesen. Ich will der Welt aber auch eine andere E.
zeigen. Das Bild, das ich von ihr habe. Das Bild eines lebenslustigen,
fröhlichen Mädchens, das sich gerne mit Freunden traf, Pläne für die Zukunft
hatte.“
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Als die Nachrichten mit der Familie aus dem Verlies erschienen, kapierte Ernst nicht gleich. „Ich wusste erst gar nicht, dass es um meine Brieffreundin geht.“ Dann war er schockiert. „Es drangen immer mehr Details durch: Name, Alter. Dann habe ich das Jugendfoto in ÖSTERREICH gesehen, da hat es mich gerissen: „Mein Gott, die Sissy – eingesperrt wie die Natascha Kampusch. Ich war traurig, aber auch wütend und voller Hass auf ihren Vater.“
„Das Schwein“
Ihr Vater – über den redet sich Ernst
jetzt richtig in Rage. „Schwein“ nennt er ihn. Vor allem, weil er in einem
Wochenmagazin behauptet hatte, seine Tochter hätte sich nächtelang mit
miesen Personen herumgetrieben, die kein guter Umgang für sie waren. Er habe
sie „aus dem Sumpf“ herausholen müssen. „Ich habe einen sehr, sehr großen
Hass auf ihn. Wenn es nach mir ginge, wäre die angemessene Strafe, die er
verdient, viel höher als das, was ihm blüht. Unsere Gesetze sind viel zu
lasch.“
Dann bricht Ernst wieder ab, neigt den Kopf. Man merkt, dass ihm tausende Gedanken durch den Kopf schießen. „Sissy hat nicht über ihre Probleme gesprochen“, sagt er schließlich leise. „Nur über die Schule und über ihren Job. Beides machte ihr keinen besonderen Spaß. Hätte ich damals zwischen den Zeilen gelesen, ich hätte vielleicht mehr aus den Briefen herauslesen können. Heute, im Nachhinein, verstehe ich, wenn ich diese Briefe wieder lese, dass Sissy Probleme hatte, und nicht nur das fröhliche Mädchen war, das sie immer vorgab, zu sein.“
„Machen Sie sich Vorwürfe, dass Sie das Unglück nicht verhindern konnten?“, frage ich vorsichtig. Ernst denkt kurz nach, sagt dann traurig. „Ich wusste ja nicht Bescheid, dass Sissy von ihrem Vater missbraucht worden war. Ich denke mir nur oft: Warum hat sie nichts gesagt? Und ich denke mir, ich habe 24 Jahre lang ein schönes Leben in Freiheit geführt. Die Sissy hingegen war diese ganze Zeit über eingesperrt. Das ist nicht gerecht.“
Kein Kontakt
„Als Sie plötzlich keinen Brief mehr von E.
erhalten haben, warum haben Sie nie wieder versucht, nochmals Kontakt zu ihr
aufzunehmen?“ „Das muss man verstehen. Die Zeit damals. Wir waren jung. Aus
den Augen, aus dem Sinn: Mit 18 Jahren sind Freundschaften kurzlebig. Als
ich von ihr keinen Antwortbrief mehr bekommen habe, habe ich mich nach
anderen Mädchen umgeschaut. Da rannten hunderte hübsche Mädels in der Schule
herum. Wir wohnten außerdem in zwei verschiedenen Ortschaften. Hätte ich
damals schon einen Führerschein gehabt, hätte ich sie vielleicht einmal
besucht. Aber so …“
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Ich krame in meiner Handtasche, Ernst entdeckt ein paar Blatt Papier. Ich bemerke seine Blicke. „Was würden Sie Elisabeth heute schreiben, nach all dem, was Sie in den letzten zwei Wochen über ihre Gefangenschaft erfahren haben?“
Ernst schweigt lange. „Keine Ahnung“, sagt er. „Da ist man völlig sprachlos.“
„Probieren Sie es, schreiben Sie es nieder“, ermuntere ich ihn. „Tun Sie es Elisabeth zuliebe. Vielleicht liest Sie Ihre Zeilen, erfährt, dass jemand da draußen an sie denkt.“
Brief unter Tränen
Und plötzlich treten Tränen in seine
Augen. Er greift nach einem Blatt Papier, nimmt den Kugelschreiber in die
Hand, versucht ein paar Sätze zu formulieren, bricht ab, versucht es wieder.
Er zerknüllt das Papier, probiert es einmal, zweimal, dreimal. Es dauert
lange, sehr lange, bis er fertig ist, der erste Brief nach 24 Jahren: „Warum
hast Du in Deinen Briefen nie etwas von Deinen Problemen + Sorgen gesagt?
Man hätte Dir sicher helfen können. Für mich bist Du eine ,Heldin'. Ich
wünsche Dir + Deinen Kindern alles Gute für Deinen weiteren Lebensweg.“
In seine Tränen hinein frage ich, ob er den Kontakt gerne wieder aufnehmen würde, wenn E. aus der Obhut der Ärzte entlassen wird? „Ich glaube, sie hat mich vergessen“, sagt Ernst nach einer Weile. „Aber wenn sie mir auf meine Zeilen antwortet, würde ich ihr zurückschreiben. Vielleicht könnten wir die Brieffreundschaft ja fortsetzen …“