Prozess des Jahres
Opfer des Amokfahreres: "Habe gedacht, ich sterbe"
22.09.2016Am dritten Tag des Amokfahrer-Prozesses erzählen Opfer vom Horror des 20. Juni 2015.
Weißer Anzug, gesenkter Blick – auch am dritten Tag ist Alen R. (27) im Grazer Gericht unverändert. Und auch seine Aussagen sind es: „Ich kann mich nicht erinnern.“
Beklemmend gut können sich hingegen die Opfer erinnern, die vor Gericht aussagen. Sie schildern den blanken Horror. Krachen und Schreie, Motorengeheul und quietschende Reifen, Schreie, Blut, Sirenen. „Ich wollte gerade den Fahrradständer betätigen“, berichtet eine Zeugin, als R. vorbeiraste – so knapp, dass der Ständer plötzlich weg war. „Hatten Sie das Gefühl, er hat Sie anvisiert?“, fragt Richter Andreas Rom. – „Ja“, sagt sie.
Weiterleben im Rollstuhl: Aber der Job ist weg
Dann tritt eine junge Frau vors Gericht. Sie kann fast nicht sprechen, bricht in Tränen aus. „Ich war mit meinem Freund in der Herrengasse unterwegs, da ist der Wagen um die Ecke gerast.“ Die Frau wurde am Fuß erfasst. „Bis Ende 2015 bin ich im Rollstuhl gesessen. Jetzt muss ich eine Umschulung machen.“
Andere Zeugen glaubten sich in einem Horror-Film. „Es war wie eine Verfolgungsjagd“, sagt ein Mann, der Wagen sei mit 60 km/h dahergekommen.
„Er hat den Mopedfahrer, der ohnehin schon ganz rechts ausgewichen ist, anvisiert, dazu hat er eingelenkt“, schildert ein Techniker, der mit seiner Partnerin und der kleinen Tochter unterwegs war. Sie flüchten in einen Shop, der Mann rettet sich mit einem Sprung in eine Hauseinfahrt.
Zeugin: »Er ist direkt auf mich zugefahren«
Eine ältere Dame kommt mühsam vor die Richterbank. „Ich habe einen Knall gehört, dann das Auto gesehen“, schildert die Grazerin. Und dann? „Er ist direkt auf mich zugefahren. Ich dachte, jetzt stirbst du auf der Straße.“ Im letzten Augenblick gelingt es ihr, auf den Vorsprung einer Auslagenscheibe zu springen, der Amokfahrer Alen R. erfasst sie dennoch – Knochenbrüche an beiden Füßen.
Entschuldigung? „Würde es Ihnen helfen, wenn sich mein Mandant, ohne dass es seine Schuld mildert, bei Ihnen entschuldigt?“, fragt R.s Anwältin – mit tonloser Stimme die Antwort: „Nein, danke.“
Schließlich schildert ein grau melierter Herr: „Wir wollten gerade die Hochzeitskerze unserer Tochter abholen.“ Er rettet seine Frau mit einem Stoß in einen Eingang, drei weitere Zeugen überleben, weil sie auf die Stufe der Stadtpfarrkirche springen. Andere wieder wähnten ihre Angehörigen tot. Ein Zeuge: „Ich sah jemanden regungslos liegen, er hatte schwarze Jeans an, wie sie mein Sohn an diesem Tag trug. Mir ist fast das Herz stehen geblieben. Dann habe ich meine Frau und meinen Sohn beim Kirchenportal entdeckt …“
Schreiduelle vor Gericht
„Ich kann mich nicht erinnern“, ist die Standard-Antwort des Todeslenkers.
Lautstark. Auf heikle Fragen antwortet Alen R. stets: „Ich wurde verfolgt, wollte zur Polizei.“ Er gab sogar an, nicht zu wissen, dass die Herrengasse eine Fußgängerzone ist. Richter Andreas Rom wurde darauf laut: „Jetzt tun Sie nicht so. Hat man Ihnen den Führerschein geschenkt? Haben Sie erst bemerkt, dass es eine Fußgängerzone ist, als die Menschen über Ihre Motorhaube flogen?“ Richter Rom glaubt R. auch nicht, dass die Erinnerungslücken echt sind: „Sie konnten aufstehen, frühstücken, das Auto des Vaters ausborgen, Geld vom Bankomat abheben, nach Graz fahren. Wenn es ans Eingemachte geht, wissen Sie nichts mehr.“