Letzter Akt im Entführungsdrama Kampusch: Heute stand Ernst H. (45) wegen Begünstigung des Kidnappers Priklopil vor Gericht. Die Verhandlung endete mit einem Freispruch. Nataschas Vater, Ludwig Koch, reagiert empört.
Freispruch für Ernst H., den langjährigen Freund des Kampusch-Entführers Wolfgang Priklopil. Richterin Minou Aigner fand am Montag im Wiener Straflandesgericht keinen Beweis, dass das Verhalten des 46-Jährigen am 23. August 2006 darauf gerichtet war, Priklopil vor der Polizei zu verstecken. Die Staatsanwaltschaft hatte das Ernst H. unterstellt und ihm Begünstigung vorgeworfen. Der Freispruch ist nicht rechtskräftig, Staatsanwalt Hans-Peter Kronawetter gab vorerst keine Erklärung ab.
"Schlechter Zustand"
Kurz nachdem Natascha Kampusch nach achteinhalbjähriger Gefangenschaft die Flucht aus den Fängen ihres Peinigers gelungen war, hatte sich Priklopil telefonisch bei Ernst H. gemeldet und diesen zum Donauzentrum gebeten. "Er hat gesagt, es ist ein Notfall und ich soll ihn abholen so schnell es geht", gab Ernst H. zu Protokoll. Priklopil, den er vor über 20 Jahren kennengelernt hatte, sei "in einem sehr schlechten Zustand" gewesen, als er zu ihm ins Auto stieg.
Er habe ihm "Anordnungen" erteilt, erinnerte sich Ernst H. Priklopil habe gemeint, er, H., solle ihn "wegbringen" und zuvor seine insgesamt drei Handys ausschalten: "Er war Nachrichtentechniker und wusste genau, dass man das orten und abhören kann."
"Entführer und Vergewaltiger"
Nachdem er die Mobiltelefone außer Betrieb gesetzt hatte, habe ihm Priklopil die Entführung und Gefangennahme von Natascha Kampusch gestanden. Priklopil habe sich als "Entführer und Vergewaltiger" bezeichnet. "Für mich ist eine Welt zusammengebrochen. Ich war schockiert", sagte Ernst H. Ihm sei in diesem Moment bewusstgeworden, dass das pausbäckige junge Mädchen, das er einmal in Begleitung Priklipols vor einer Halle gesehen hatte, nicht ein Kind aus der Nachbarschaft war, wie jener behauptet hatte, sondern die seit Jahren von der Polizei gesuchte Natascha Kampusch.
Angst
Er habe sich vor Priklopil gefürchtet und daher keine Möglichkeit gehabt, die Polizei anzurufen, insistierte der Angeklagte: "Mir war klar, dass sich jeder, der sich ihm in den Weg stellt, gefährdet ist. Er ist absolut gewaltbereit gewesen. Mir war klar, dass ich unter Gefahr stehe. Ich war in der gleichen Situation wie Natascha Kampusch." Daher sei er insgesamt fünf Stunden mit dem Mann in der Gegend herumgefahren: "Ich musste ihn in Stimmung halten." Priklopil habe schließlich die Autoschlüssel verlangt und ihn, H. zum Aussteigen aufgefordert, um mit dem Pkw gegen eine Betonwand zu fahren. Er habe ihn überzeugt, dass Selbstmord auf diese Art nicht möglich sei, "weil das Auto zu wenig PS hat und er viel zu wenig Schwung zusammenbringt."
Priklopil sei es nicht um Flucht gegangen: "Er hatte keine Möglichkeit zu fliehen. Es war ihm völlig klar, dass es aus ist und er in Haft muss. Es war nichts auf eine lange Flucht ausgerichtet. Er hat kein Geld mitgehabt, es war nicht die geringste Vorbereitung für so was."
Motiv: Torschlusspanik
Laut Ernst H. verriet ihm Priklopil auch sein Motiv, weshalb er sich der zu diesem Zeitpunkt zehn Jahre alten Natascha Kampusch bemächtigt hatte: "Es war für ihn eine Torschlusspanik, dass er jetzt schon so alt ist und kein Mädchen, keine Frau hat." Am Ende der Autofahrt, als Prkilopil ausstieg, habe dieser ihn noch gebeten, er, H., möge Natascha Kampusch mitteilen, "dass es ihm leidtut und er sie sehr gerne hat". Priklopil habe auch noch versucht, auf einem Papierzettel eine Botschaft an seine Mutter zu hinterlassen, aber nicht mehr als das Wort "Mama" zu Papier gebracht.
Weshalb er sich nach Priklopils Abschied nicht umgehend bei der Polizei gemeldet habe? "Es war keine Möglichkeit. Ich hab an Anhänger hinten drauf g'habt. Da kann ich nicht einfach stehenbleiben", erwiderte Ernst H. Außerdem sei er "komplett fertig" und "am Ende meiner Kraft" gewesen: "Es war a totale Unterzuckerung". Er sei davon ausgegangen, "dass er so und so geschnappt wird". Priklopil verübte noch am selben Abend Selbstmord, indem er sich am Nordbahnhof vor einen Zug warf.
Für die Richterin stand fest, dass das letzte Treffen zwischen Priklopil und Ernst H. aus Sicht des Kampusch-Entführers "nicht den Zweck hatte, zu flüchten. Ich glaube, dass er einfach Zeit gewinnen und überlegen wollte, was er jetzt tun soll. Sein primäres Motiv war, sich jemandem anzuvertrauen". Ernst H. habe nicht den Vorsatz gehabt, seinen Freund vor der Polizei zu schützen: "Davon auszugehen, dass er Fluchthilfe leisten wollte, geht zu weit."
Seite 2: Alle Infos im Live-Ticker zum Nachlesen:
11:29 Uhr: Ernst H wird der Begünstigung freigesprochen
11:10 Uhr:
Ernst H: Er sei mit Priklopil fünf Stunden im Auto herumgefahren und habe sich dessen "Lebensbeichte" angehört. Es habe keine Möglichkeit bestanden, die Polizei zu rufen. Die Handys habe er auf Geheiß seines Freundes außer Betrieb gesetzt.
11 Uhr:
Ernst H. weist alle Anschuldigungen zurück.
10:11 Uhr:
Der Verteidiger von Ernst H., Manfred Ainedter, ist von einem Freispruch überzeugt
09:22 Uhr:
Im Fall eines Schuldspruchs drohen Ernst H. bis zu zwei Jahre Haft oder eine Geldstrafe von bis zu 360 Tagessätzen.
09:00 Uhr:
Die Verhandlung findet wegen des Medienandrangs im Großen Schwurgerichtssaal statt.
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Lesen Sie auf Seite 3 : Die Hintergrund-Infos zum Entführungs-Fall Kampusch.
Der 23. August 2006 hat das Leben des Wiener Kaufmanns Ernst H. auf den Kopf gestellt. Seither hat der 45-Jährige "keine Kraft mehr im Beruf". Seither ist er menschenscheu. Seither lebt er in einer brodelnden Gerüchteküche. "Und damit unschuldig in der Hölle", sagt er: "Aber wen interessiert das schon?"
Selbstmord
Heute kümmert es Richterin Minou Aigner. Denn vor ihr soll Ernst H. noch einmal erläutern, was am 23. August 2006 geschah. Es war der Tag, an dem Natascha Kampusch ihrem Entführer Wolfgang Priklopil entkommen ist.
Kurz danach rief der Kidnapper seinen Freund und Geschäftspartner Ernst H. an und bat ihn um ein Treffen. Am Ende des Tages warf sich Wolfgang Proklopil vor einen Zug.
Wahrheit
Über die letzte Aussprache lieferte Ernst H. der Polizei zwei Versionen: Weil er "nicht in den Fall hin eingezogen werden wollte", erzählte der Wiener, Priklopil habe nur sein Herz ausschütten wollen, weil er betrunken in ein Planquadrat geraten sei. Drei Jahre später sagte Ernst H. der Soko-Natascha die Wahrheit: Priklopil hat ihm beim Treffen sein Verbrechen gestanden und eine Lebensbeichte abgelegt.
Vorwurf
Der Hakenschlag brachte den Kaufmann in Verdacht, generell mehr zu wissen. Nataschas Vater, Ludwig Koch, wollte ihn deshalb handfest zur Rede stellen – was ihm eine Vorstrafe wegen Nötigung einbrachte. Heute holt Staatsanwalt Hans-Peter Kronawetter Ernst H. vor Gericht. Die Anklage: "Begünstigung" des Entführers, denn der Freund hätte ihn bei der Polizei abliefern müssen.
Angst
Ernst H. sagt: "Ich bin neben einem Schwerverbrecher im Auto gesessen, der gerade als Nataschas Entführer aufgeflogen war. Der war in seiner Verzweiflung zu allem entschlossen – und viel stärker als ich. Ich hatte Angst. Wer kann mir das verübeln?"
Die Antwort liegt zwischen Freispruch und zwei Jahren Haft.