Ex-OGH-Präsident: "Ermittlungsergebnisse vernachlässigt."
Der pensionierte Präsident des Obersten Gerichtshofs (OGH), Johann Rzeszut, erhebt schwere Vorwürfe gegen die mit dem Fall Natascha Kampusch betraut gewesenen Anklagebehörden. Er wirft diesen "konsequente und beharrlich fortgesetzte Vernachlässigung entscheidender polizeilicher Ermittlungsergebnisse" und eine "langfristige Verzögerung bzw. bis zuletzt gänzliche Unterlassung nachhaltigst indizierter wesentlicher Ermittlungsschritte" vor.
An Korruptionsstanwaltschaft übermittelt
Darüber hinaus wäre die vom Innenministerium eingesetzte Evaluierungskommission, die allfällige Versäumnisse bei den Ermittlungen im Zusammenhang mit der entführten und achteinhalb Jahre gefangen gehaltenen Natascha Kampusch aufzeigen sollte, "wesentlich und langfristig" behindert worden, behauptet Rzeszut, der selbst dieser Kommission unter dem ehemaligen Verfassungsgerichtshof-Präsidenten Ludwig Adamovich angehört hat.
Rzeszuts "Sachverhaltsmitteilung zum staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren im Abgängigkeitsfall Natascha Kampusch" umfasst inklusive zahlreicher Beilagen 46 Seiten und liegt der APA vor. Am Donnerstag hat das Papier über Umwege auch das Justizministerium erreicht. "Es handelt sich um Vorwürfe strafrechtlicher Natur, die wir umgehend der Korruptionsstaatsanwaltschaft übermittelt haben", teilte die Sprecherin von Justizministerin Claudia Bandion-Ortner (VP), Katharina Swoboda, mit.
Soko-Leiter in Selbstmord getrieben
Der Ex-OGH-Präsident lässt in seiner Sachverhaltsmitteilung aufhorchen, indem er behauptet, der Selbstmord des Leiters der beim Bundeskriminalamt eingerichteten Sonderkommission (Soko) Kampusch wäre "als Verzweiflungstat zu verstehen, die nicht unwesentlich durch eine unverständlich beharrliche Resistenz der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsleitung gegenüber sicherheitsbehördlichem Ermittlungsfortschritt entscheidend mitausgelöst wurde".
Der Chef-Ermittler hatte sich Ende Juni 2010 - und damit rund sechs Monate nach der Präsentation des Abschlussberichts der Evaluierungskommission und der folgenden endgültigen Einstellung der Ermittlungen im Fall Kampusch - auf seiner Terrasse in Graz erschossen.
"Ermittlungsansätze vernachlässigt"
Laut Rzeszut war der Beamte in den Monaten zuvor einer "sachlich nicht vertretbaren Druckausübung" ausgesetzt gewesen, indem man ihm im November 2009 "unmissverständlich" nahe gelegte habe, er möge den Ermittlungsakt schließen. Dieses Vorgehen, das Rzeszut vor allem dem damaligen Grazer Oberstaatsanwalt und nunmehrigen Leiter der Staatsanwaltschaft Graz, Thomas Mühlbacher, zuschreibt, der auf Initiative des Justizministeriums die Erhebungen rund um allfällige Mitwisser oder Komplizen des Kampusch-Entführers Wolfgang Priklopil übernommen hatte, sei für den Soko-Leiter und die Evaluierungskommission gleichermaßen überraschend gekommen, weil sich "kurz davor weiterer akzentuierter Aufklärungsbedarf ergeben hatte", so der pensionierte OGH-Präsident.
Rzeszut wirft den Strafverfolgungsbehörden weiters vor, bei der Suche nach allfälligen Mittätern oder Mitwissern von Wolfgang Priklopil eine "sachlich nicht nachvollziehbare Alleinorientierung an den Angaben der Natascha Kampusch" an den Tag gelegt zu haben. Die Staatsanwaltschaft hätte darüber hinausgehende "Ermittlungsansätze vernachlässigt".
"Keine Anhaltspunkte"
Die Sprecherin der Staatsanwaltschaft Wien, Michaela Schnell, wollte am Donnerstagnachmittag den Inhalt der Anschuldigungen nicht kommentieren. Sie betonte jedoch, über Jahre hinweg wäre sämtlichen Indizien in Richtung einer Mehrtätertheorie penibel nachgegangen worden: "Es haben sich dahingehend überhaupt keine Anhaltspunkte ergeben." Schließlich sei sogar ein Oberstaatsanwalt aus einem anderen Sprengel als Leiter der Ermittlungen beigezogen worden, der zu keinem anderen Ergebnis gekommen sei.
Rzezuts Behauptung, der ehemalige Verfassungsgerichtshof-Präsident Ludwig Adamovich wäre von einer möglicherweise befangenen Richterin wegen übler Nachrede verurteilt worden, scheint auf jeden Fall haltloszu sein. Adamovich hatte behauptet, für Natascha Kampusch wäre die Zeit ihrer Gefangenschaft womöglich "allemal besser" gewesen "als das, was sie davor erlebt hat", worauf ihn Kampuschs Mutter, Brigitte Sirny, geklagt hatte.
"Völlig aus der Luft gegriffen"
Der Leiter der Staatsanwaltschaft Graz, Thomas Mühlbacher, bezeichnete die Vorwürfe von Rzeszut als "völlig aus der Luft gegriffen". Anders als von Rzeszut behauptet sei kein Druck auf den Leiter der Soko Kampusch ausgeübt worden, so Mühlbacher am Donnerstagabend.
"Was soll ich zu solchen Vorwürfen sagen?", so Mühlbacher. Jener Soko-Leiter, der sich später das Leben genommen habe, sei langjährig mit ihm bekannt gewesen, man habe das beste Einvernehmen gehabt, so der Leiter der Staatsanwaltschaft. Er wisse nicht, woher diese "schon gewaltigen Vorwürfe" kommen, Rzeszut habe ihn auch nie darauf angesprochen. Das Ganze sei ihm unverständlich, so Mühlbacher.