Neue Grippe

Steirerin über ihr Leben in Mexico-City

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Andrea Cancino-Kaier aus Bruck an der Mur arbeitet seit Jahren in der Stadt, von der aus das Schweinegrippe-Virus seine Reise um die Welt angetreten hat.

Seit fast sechs Jahren lebe ich nun schon in der 20-Millionen-Stadt Mexiko City. Smog, Überfälle, Erdbeben – mit vielem habe ich gerechnet. Nicht aber mit einer gefährlichen Grippeepidemie, die zu einer weltweiten Gefahr wird.

Keine Schule mehr
Seit Freitag letzter Woche ist alles anders. Ich bin auf dem Weg in die Deutsche Schule, wo ich unterrichte. Da erfahre ich aus dem Radio, dass alle Schulen in der Stadt auf Anweisung der mexikanischen Regierung geschlossen wurden. Zuerst nur für einen Tag, dann heißt es bis 5. Mai – vorläufig ...

Ein paar Tage später wird die Maßnahme auf ganz Mexiko ausgedehnt. Kein Unterricht vom Kindergarten bis zur Universität, stattdessen Zwangsferien für Millionen von Schülern, Studenten und Lehrern.

Maske auf!
Das Stadtbild verändert sich mit einem Schlag. Die ersten Leute mit Atemschutzmasken tauchen auf. Solche Bilder kenne ich nur aus dem Fernsehen aus Japan. Aber es ist der beste Schutz gegen Ansteckung. Nur – nach kürzester Zeit sind alle ausverkauft. Aber ich habe Glück. Tage später bekomme ich Schutzmasken für meine Familie und mich. Von nun an heißt es beim Verlassen der Wohnung: Maske auf!

Atemschutz zu Wucherpreisen
Nicht alle Menschen haben so viel Glück. Die Regierung verteilt sechs Millionen Schutzmasken auf den Straßen, in U-Bahn-Stationen, auf Bahnhöfen und am Flughafen, aber das ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. In den Zeitungen stehen sogar Anleitungen, wie man sich selbst eine basteln kann. Skrupellose Straßenhändler verkaufen sie um ein Vielfaches des Preises an die verzweifelten Menschen. Bis zu 20 Pesos (umgerechnet 1 Euro) verlangen sie pro Stück. In der Apotheke kostet eine Maske normalerweise einen Peso (5 Cent).

Steigende Ungewissheit
Die staatlichen Krankenhäuser werden von den Menschen gestürmt. Wer es sich leisten kann, geht in ein teures privates Spital, denn das staatliche Gesundheitssystem in Mexiko ist außerordentlich miserabel. Auch mobile Ärzteteams sind in der Stadt unterwegs, um Patienten auf der Straße zu untersuchen.

Die Angaben der mexikanischen Behörden sind äußerst widersprüchlich. Zurzeit spricht die Regierung von mehr als 300 Erkrankungen und zwölf Todesfällen, aber wer weiß, wie viele es tatsächlich sind? Und: Ist ausreichend Medizin zur ­Behandlung vorhanden?

Tamiflu aus Europa
Die Zeitungen berichten über Schwierigkeiten bei der Versorgung mit dem antiviralen Medikament Tamiflu. Sicherheitshalber lasse ich mir aus Österreich zwei Packungen Tamiflu schicken. Für den Notfall, man weiß ja nie.

Hausarrest oder Flucht?
Niemand weiß, wie es hier weitergehen wird. Was ist besser: In der Stadt bleiben oder wegfahren? Einige von meinen Schülern verbarrikadieren sich mit ihren Familien zu Hause. Andere flüchten aus der Stadt. Von meinen ausländischen Freunden überlegen viele, vor allem jene, die Kinder haben, das Land zu verlassen. Solange es noch geht, denn Reisebeschränkungen für Mexiko drohen. Ich entschließe mich dennoch, hier im Land zu bleiben.

Land ohne Labors
Außerdem habe ich keine Lust, mit infizierten Leuten im Bus oder Flugzeug zu sitzen. Von meinen Schülern weiß ich, dass einige seit einer Woche das Haus nicht mehr verlassen haben – aus Angst sich anzustecken. Angeblich hat eine Schülerin von mir die Grippe, aber ob das wirklich die H1N1-Grippe ist, konnte ich nicht in Erfahrung bringen. Das Problem ist ja, dass es in Mexiko keine Labors gibt, welche die Tests durchführen könnten. Die Proben müssen daher in die USA geschickt werden – Mexiko hat aber gerade einen Kredit bekommen, um diese Labors selbst einzurichten.

Hamsterkäufe und leere Straßen
Auf die Ungewissheit folgt bei vielen die Panik. Die Menschen, die hiergeblieben sind, stürmen die Supermärkte und hamstern Vorräte. Wer weiß, wie lange das dauern wird.

Täglich werden die Maßnahmen zur Eindämmung der Epidemie verschärft. Kinos, Theater und Museen werden geschlossen, Fußballspiele finden vor leeren Tribünen statt, Restaurantbesuche werden unmöglich, weil die Lokale nur mehr Speisen und Getränke zum Mitnehmen verkaufen dürfen, viele Geschäfte bleiben geschlossen. Die Wirtschaft von Mexiko – ohnehin durch die Wirtschaftskrise mehr als angeschlagen – muss Verluste in Milliardenhöhe hinnehmen. Und als ob das alles nicht genug wäre, gibt es am Montag auch noch ein Erdbeben der Stärke 5,8 – gottlob ohne größere Schäden.

Mexiko Citys Straßen leeren sich von Tag zu Tag immer mehr. Und es passiert, was ich mir nie gedacht hätte: Wenn ich heute durch die Straßen der Millionenstadt gehe, fühle ich mich plötzlich an meine Heimatstadt Bruck an der Mur an einem beschaulichen Sonntagnachmittag erinnert – nur dass es dort keine tödliche Bedrohung gibt.

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