Neue Grippe
Steirerin über ihr Leben in Mexico-City
02.05.2009
Andrea Cancino-Kaier aus Bruck an der Mur arbeitet seit Jahren in der Stadt, von der aus das Schweinegrippe-Virus seine Reise um die Welt angetreten hat.
Seit fast sechs Jahren lebe ich nun schon in der 20-Millionen-Stadt Mexiko City. Smog, Überfälle, Erdbeben – mit vielem habe ich gerechnet. Nicht aber mit einer gefährlichen Grippeepidemie, die zu einer weltweiten Gefahr wird.
Keine Schule mehr
Seit Freitag letzter Woche ist alles anders.
Ich bin auf dem Weg in die Deutsche Schule, wo ich unterrichte. Da erfahre
ich aus dem Radio, dass alle Schulen in der Stadt auf Anweisung der
mexikanischen Regierung geschlossen wurden. Zuerst nur für einen Tag, dann
heißt es bis 5. Mai – vorläufig ...
Ein paar Tage später wird die Maßnahme auf ganz Mexiko ausgedehnt. Kein Unterricht vom Kindergarten bis zur Universität, stattdessen Zwangsferien für Millionen von Schülern, Studenten und Lehrern.
Maske auf!
Das Stadtbild verändert sich mit einem Schlag. Die
ersten Leute mit Atemschutzmasken tauchen auf. Solche Bilder kenne ich nur
aus dem Fernsehen aus Japan. Aber es ist der beste Schutz gegen Ansteckung.
Nur – nach kürzester Zeit sind alle ausverkauft. Aber ich habe Glück. Tage
später bekomme ich Schutzmasken für meine Familie und mich. Von nun an heißt
es beim Verlassen der Wohnung: Maske auf!
Atemschutz zu Wucherpreisen
Nicht alle Menschen haben so viel
Glück. Die Regierung verteilt sechs Millionen Schutzmasken auf den Straßen,
in U-Bahn-Stationen, auf Bahnhöfen und am Flughafen, aber das ist nur ein
Tropfen auf den heißen Stein. In den Zeitungen stehen sogar Anleitungen, wie
man sich selbst eine basteln kann. Skrupellose Straßenhändler verkaufen sie
um ein Vielfaches des Preises an die verzweifelten Menschen. Bis zu 20 Pesos
(umgerechnet 1 Euro) verlangen sie pro Stück. In der Apotheke kostet eine
Maske normalerweise einen Peso (5 Cent).
Steigende Ungewissheit
Die staatlichen Krankenhäuser werden von
den Menschen gestürmt. Wer es sich leisten kann, geht in ein teures privates
Spital, denn das staatliche Gesundheitssystem in Mexiko ist außerordentlich
miserabel. Auch mobile Ärzteteams sind in der Stadt unterwegs, um Patienten
auf der Straße zu untersuchen.
Die Angaben der mexikanischen Behörden sind äußerst widersprüchlich. Zurzeit spricht die Regierung von mehr als 300 Erkrankungen und zwölf Todesfällen, aber wer weiß, wie viele es tatsächlich sind? Und: Ist ausreichend Medizin zur Behandlung vorhanden?
Tamiflu aus Europa
Die Zeitungen berichten über Schwierigkeiten
bei der Versorgung mit dem antiviralen Medikament Tamiflu. Sicherheitshalber
lasse ich mir aus Österreich zwei Packungen Tamiflu schicken. Für den
Notfall, man weiß ja nie.
Hausarrest oder Flucht?
Niemand weiß, wie es hier weitergehen
wird. Was ist besser: In der Stadt bleiben oder wegfahren? Einige von meinen
Schülern verbarrikadieren sich mit ihren Familien zu Hause. Andere flüchten
aus der Stadt. Von meinen ausländischen Freunden überlegen viele, vor allem
jene, die Kinder haben, das Land zu verlassen. Solange es noch geht, denn
Reisebeschränkungen für Mexiko drohen. Ich entschließe mich dennoch, hier im
Land zu bleiben.
Land ohne Labors
Außerdem habe ich keine Lust, mit infizierten
Leuten im Bus oder Flugzeug zu sitzen. Von meinen Schülern weiß ich, dass
einige seit einer Woche das Haus nicht mehr verlassen haben – aus Angst sich
anzustecken. Angeblich hat eine Schülerin von mir die Grippe, aber ob das
wirklich die H1N1-Grippe ist, konnte ich nicht in Erfahrung bringen. Das
Problem ist ja, dass es in Mexiko keine Labors gibt, welche die Tests
durchführen könnten. Die Proben müssen daher in die USA geschickt werden –
Mexiko hat aber gerade einen Kredit bekommen, um diese Labors selbst
einzurichten.
Hamsterkäufe und leere Straßen
Auf die Ungewissheit
folgt bei vielen die Panik. Die Menschen, die hiergeblieben sind, stürmen
die Supermärkte und hamstern Vorräte. Wer weiß, wie lange das dauern wird.
Täglich werden die Maßnahmen zur Eindämmung der Epidemie verschärft. Kinos, Theater und Museen werden geschlossen, Fußballspiele finden vor leeren Tribünen statt, Restaurantbesuche werden unmöglich, weil die Lokale nur mehr Speisen und Getränke zum Mitnehmen verkaufen dürfen, viele Geschäfte bleiben geschlossen. Die Wirtschaft von Mexiko – ohnehin durch die Wirtschaftskrise mehr als angeschlagen – muss Verluste in Milliardenhöhe hinnehmen. Und als ob das alles nicht genug wäre, gibt es am Montag auch noch ein Erdbeben der Stärke 5,8 – gottlob ohne größere Schäden.
Mexiko Citys Straßen leeren sich von Tag zu Tag immer mehr. Und es passiert, was ich mir nie gedacht hätte: Wenn ich heute durch die Straßen der Millionenstadt gehe, fühle ich mich plötzlich an meine Heimatstadt Bruck an der Mur an einem beschaulichen Sonntagnachmittag erinnert – nur dass es dort keine tödliche Bedrohung gibt.