Der österreichische Dramatiker Thomas Köck schrieb ein Buch über Herbert Kickl - auf diese Weise wird der FPÖ-Chef sogar den Weg auf eine Theaterbühne finden.
"Der herbertkomplex ist der Konjunktiv. Der herbertkomplex ist die reine Möglichkeitsform, die bereits so viel über die aktuelle Situation und den Zustand dieser Zeit aussagt", schreibt Thomas Köck. "Der herbertkomplex ist der Rechtsruck, der kein Ruck mehr ist, sondern eine mittlerweile jahrzehntelange Verschiebung sämtlicher demokratischer Grundprinzipien." Der Autor lässt kaum Zweifel daran, um wen sich seine "Chronik der laufenden Entgleisungen" dreht: Herbert Kickls FPÖ.
Das Schauspielhaus Graz und das Schauspielhaus Wien haben den in Deutschland lebenden erfolgreichen oberösterreichischen Dramatiker gebeten, sich im Vorfeld der kommenden Nationalratswahlen mit den aktuellen politischen und gesellschaftlichen Verwerfungen in Österreich zu beschäftigen. Der nun im Suhrkamp Verlag erscheinende "eigentlich untheatrale Text, der aber total spannend ist fürs Theater" (Regisseurin Marie Bues), soll in Wien am Vortag der Nationalratswahl in einer zehnstündigen Marathonlesung gelesen werden. In einer radikalen Strichfassung wird er unter dem Titel "chronik der laufenden entgleisungen (austria revisited)" am 22. September in Graz uraufgeführt, ehe er vier Tage später ins Wiener Schauspielhaus übersiedelt. Anzunehmen, dass dort die Bezüge, die sich mit der AfD beschäftigen, etwas gekürzt werden. Doch im Gesamttext wird deutlich: Der Rechtsruck ist keineswegs ein rein österreichisches Phänomen.
Chronik der "laufenden Entgleisungen"
Die mit einer Eintragung am 5. Juni 2023 beginnende "Chronik der laufenden Entgleisungen" ist ein tagebuchartiges Mitschreiben von beunruhigenden Nachrichten, gegliedert in die Kapitel "Sommerloch", "Herbsterschöpfung", "Winterdepression" und "Frühjahrsmüdigkeit". Getrieben wird das Ganze von einer Ahnung, dass sich da Schlimmes zusammenbraut, denn "der herbertkomplex" ist auch "das Umfragehoch": "Und ständig die Wahlumfragen, die die FPÖ auf Platz eins sehen", heißt es, und anderswo lautet Köcks kassandraartiger Zukunftsbefund: "Denn es wird rutschen, es rutscht schon, es ist schon gerutscht."
Die tiefer gehende Auseinandersetzung mit dieser Entwicklung ist der bedeutend interessantere Teil des Buches als das bloße Nachvollziehen jener Ereignisse des vergangenen Jahres, an die man gar nicht so gerne erinnert wird - von den Schmid-Chatverläufen ("Die apokalyptischen Reiter der österreichischen Politik: Excel, Word, Mail und SMS.") über den Kurz-Prozess bis zur Benko-Pleite. "Ich suche verzweifelt nach klaren Positionierungen gegenüber einem Drittel der österreichischen / deutschen Gesellschaft, das offen rassistische, antimuslimische, antisemitische Parteien wählt."
Auf dieser Suche beginnt der 1986 geborene Sohn eines Tischlers und einer Bankangestellten bei sich und seinem Aufwachsen, bei dem die Mitschüler "mit der Anwaltsärztin-DNA" schon einen Startvorteil ins Leben hatten. Mit seiner Klassismus-Diskussion versucht Köck an Edouard Louis und Didier Eribon anzuschließen. "Wenn ich an Österreich denke, denke ich zuerst und immer, immer wieder an die ständig unter den Tisch gekehrten Klassenfragen in diesem postfeudalen Zwergstaat. Überhaupt an die unter den Tisch gekehrten Fragen, an das Unter-den-Tisch-Kehren, denke ich. Nirgendwo wird so viel unter den Tisch gekehrt."
Immer wieder vertieft Köck sein "fortlaufendes Gespräch mit der Gegenwart, gegen eine Zukunft, in der ein rechtsextremer Politiker tatsächlich mit der Regierungsbildung beauftragt werden könnte". Er gibt etwa einen historischen Abriss des Aufstiegs der FPÖ, beschäftigt sich mit Neoliberalismus, Migrations- und Medienpolitik, widmet dem Erfolg der Glock-Pistole einen längeren Abschnitt, liefert dem deutschen Publikum die Basics zu Udo Landbauer, Johanna Mikl-Leitner, Peter Thiel und Sebastian Kurz ("Bald werden alle in Österreich jemanden kennen, die oder der eine Kurzdoku gedreht hat.").
Österreich unter UN-Sonderverwaltung?
Nur selten erhält diese "Chronik der laufenden Entgleisungen" satirische Schärfe, etwa wenn er überlegt, ob Österreich auch unter UN-Sonderverwaltung gestellt werden sollte, "eine Art europäischen Nationalpark im Herzen Europas, in dem zwar Menschen leben, die aber einfach nicht mit sich allein gelassen werden dürfen". Es überwiegt jedoch die Verzweiflung, weder analytisch noch strategisch eine Lösung parat zu haben.
"Inhaltlich bekämpfen heißt ihre Argumente akzeptieren. Inhaltlich bekämpfen heißt ihre Rhetorik akzeptieren. Inhaltlich bekämpfen, ohne geschlossen auf Regeln und Grundgesetze zu verweisen, heißt, ebenso an der Bewirtschaftung der Spaltung teilzuhaben", umschreibt Thomas Köck eine Art Scheitern. "Und ich dachte immer, ich komme damit auf irgendetwas." Da bleibt nur noch Fatalismus: "Vielleicht ist es auch egal, was im Herbst wird."